Fortsetzungsroman "CLONE CITY" von Brigitte Tietzel

Kapitel 10 vom 12.05.2024:

10

 

„Deine Frau ist noch schöner geworden“, bemerkte Schröder im Fahrstuhl nach oben. Die beiden anderen, die wir nur flüchtig kannten, nickten beifällig. Einer feixte. Ich sah ihn scharf an, und sofort brachte er schuldbewusst wieder Ordnung in sein Gesicht.

 

Ich habe in der letzten Zeit durchaus an Selbstbewusstsein gewonnen. Zum Beispiel hätte ich früher natürlich niemals scharf geguckt. Aber es kommt automatisch, wenn man mit deutlicher Hochachtung behandelt wird. Seit ich die ‚Gedanken zum Tage‘ schreibe, also seit knapp einer Woche, werde ich von allen Seiten mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.

 

Es macht mir Spaß, die ‚Gedanken‘ zu formulieren. Ich habe schon über ‚Unser Beitrag zur Müllvermeidung' geschrieben, über ‚Heiterkeit im Alltag‘, über ‚Politische Verantwortung‘, ‚Neue Medien, Triumph des 21. Jahrhunderts‘ und manches andere. Sie haben mir die Themen bisher immer vorgegeben. Allerdings soll ich bald eigene Ideen entwickeln. Sie sollen einerseits Belange betreffen, die die Bürger auf ihre moralischen Pflichten innerhalb unserer Gesellschaft und gegenüber der Regierung stoßen und dann, zur Entlastung, sollen völlig entspannte Themen bearbeitet werden. Ich habe zum Beispiel ‚Im Zoo‘ vorgeschlagen. Das war nach meinen Treffen dort mit Wallraf. Ich muss allerdings vorsichtig sein, dass ich mich nicht verrate mit meinen eigenen Vorschlägen. Die Idee ist mir gekommen, sie könnten darauf spekulieren, dass ich mich selber verrate, indem ich Themen nenne, die mir mein Unterbewusstsein diktiert. Sicher kann ich nicht alles kontrollieren. Deswegen muss ich sehr wachsam sein, sehr aufmerksam.

 

Andererseits sage ich mir immer wieder, dass sie keineswegs ein Interesse daran haben können, mich fertig zu machen. Haben sie mir nicht gerade die tägliche Rubrik übertragen, die von allen mit der größten Aufmerksamkeit gelesen wird? Haben sie mir nicht den Posten des stellvertretenden Chefredakteurs angetragen? Habe ich nicht gerade eine in hohem Maße privilegierte Begegnung mit meiner Frau gehabt? Ich bin offensichtlich auf der Höhe meiner Laufbahn. Sie können keinerlei Interesse daran haben, mich in eine Falle zu locken!

 

Irgendetwas sagt mir, dass ich trotz allem sehr vorsichtig sein muss. Ich weiß letztlich nicht, wer ‚die‘ sind. Ich habe nur mit Dr. Becker Kontakt gehabt. Wie, wenn es dort mehrere Parteien gibt, von denen eine mir vielleicht alles andere als wohl gesonnen ist, eine Spengler-Partei, beispielsweise. Ich weiß natürlich nicht, ob es die gibt. Aber ich kann es mir denken. Ich nehme mir vor, weiterhin sehr vorsichtig zu sein.

 

Zu Schröder gewandt sagte ich mit feinem Lächeln: „Sie war immer schon schön, es ist eine Freude, sie anzusehen.“

 

Das bedeutet, ich will nicht darauf angesprochen werden, dass sie jetzt noch schöner ist. Jeder in dieser verdammten Redaktion scheint zu wissen, dass wir mit einander geschlafen haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals bei einem anderen Fall ein solches Aufsehen darum gemacht worden wäre. Andere Fälle sind allerdings nicht vergleichbar, nicht wirklich. Nur – woher wussten das die anderen? Ich erinnere mich daran, wie Pütz aus der Abteilung Finanzen im letzten Jahr Vater geworden ist – irgendwie haben wir das erfahren. Ich glaube, er hat mal den Wunschkatalog vorgelegt und mit einem Kollegen darüber diskutiert. Ich erinnere mich daran, dass ich dachte, wie konventionell seine Auswahl von Eigenschaften war. Er wollte einen Sohn und der sollte gut rechnen können. Über die Frau hat man rein gar nichts gehört. Sie arbeitet nicht in unserer Redaktion.

 

Es muss der Tatbestand der natürlichen Zeugung sein, der alle so erregt. Was Schröder darüber denkt? Der lässt sich natürlich nichts anmerken, und er sagt auch nichts mehr über Arena. Er hat verstanden.

 

Ich habe sie seit damals nicht mehr gesehen. Sie kommt jetzt abends immer sehr spät nach Hause. Ich höre sie, wenn ich schon im Bett liege. Natürlich habe ich nicht die geringste Lust, sie dann noch zu sprechen. Ich wüsste auch wirklich nicht, worüber ich mit ihr reden sollte. Vielleicht ist es ihr auch peinlich. Zum Beispiel dieses Mieder. Normalerweise trägt sie so was nicht. Das heißt, ganz genau weiß ich es natürlich nicht. Ich habe es bis jetzt angenommen. Aber dann denke ich, sie muss es doch irgendwo hergehabt, es ausprobiert haben. Vielleicht hat sie den ganzen Schrank voll davon?

 

Es kommt natürlich gar nicht in Frage, einfach in ihre Schränke zu gucken. Mit welcher Begründung hätte ich das tun können? Ich könnte natürlich sagen, dass sie mich neugierig gemacht hat. Das ist ein Witz. Niemals könnte ich Arena gegenüber auf diese Begegnung anspielen.

 

Es war ja auch nicht nur die Kleidung, es war ihr ganzes, zu der Kleidung passendes Verhalten. Mir kommt der Gedanke, dass man so etwas nicht spielen kann, so muss man sein. Vielleicht hat sie den ganzen Schrank voll solcher Sachen, die sie anzieht, wenn sie in die Badehäuser geht, um sich auszutoben. Es passt nicht zu meiner Vorstellung von Arena, aber was weiß ich eigentlich von ihr? Und die Begegnung im Wasserturm, die war wirklich, die habe ich nicht bloß geträumt.

 

„Darf man die Gedanken zum morgigen Tag erfahren?“ fragte Schröder. Ich sah ihn kurz an, um seinen Gesichtsausdruck zu interpretieren. Cool wie immer.

„Lass dich überraschen“, sagte ich schnell. Was um alles in der Welt sollte das jetzt heißen? Wusste er etwa bereits, dass ich über den Zoo schreiben wollte? Woher? Und warum spielte er darauf an?

 

Schröder ist mir wirklich ein Rätsel. Ein bisschen unheimlich. Er scheint über Kanäle zu verfügen, die ihn über alles informieren, oder doch über sehr vieles. Über erstaunlich vieles. Dabei sehe ich nicht häufig, dass der mit den Leuten spricht. Das heißt, im Grunde habe ich nicht die geringste Ahnung, mit wem er spricht und welche Rolle er spielt. Ich habe allerdings instinktiv das Gefühl, dass er mir wohl gesonnen ist, dass er sein Wissen dazu benutzt, mir zu helfen, wenn ich denn clever genug bin, ihn zu verstehen.

 

Dann fühlte ich langsam eine Unruhe in mir hochsteigen. Schröder würde mich niemals direkt nach einer so belanglosen Sache fragen wie dem Thema der Gedanken zum nächsten Tag. Das wäre wirklich lächerlich. Er wollte mir sagen, dass er es bereits wusste. Er wusste, woher auch immer, worüber ich schreiben würde. Und er hatte seine Gründe, mir das mitzuteilen. Warum? Wir waren auf unserem Stockwerk angekommen, und ich konnte mich in mein Büro verziehen.

 

Ich habe den Text schon eingereicht. Ein allgemeiner Text, der von den Tieren ausgehend zu politischen Grundsatzüberlegungen überschwenkt. Ich habe mich über die Bandbreite der Tiere ausgelassen, die der Bevölkerung unserer Stadt einen so wunderbaren Überblick über die Artenvielfalt gibt. Ich habe über die große Sorgfalt gesprochen, mit der unsere Regierung es den diversen Arten ermöglicht, zu überleben. Es wird nämlich hier ein Klima geschaffen, das Tieren aus sehr unterschiedlichen Regionen unserer Erde ein Überleben ermöglicht, Tieren, die aus sehr kalten und sehr warmen Gebieten, aus Wüsten und aus Regenwäldern stammen. Alle diese Unterschiede vergehen zur Bedeutungslosigkeit, wenn ein vernünftiger Geist über allem waltet. Das ist der Sinn und der Tenor des Textes, und dann habe ich natürlich ein bisschen die Freude, das Vergnügen ausgeführt, das die Bevölkerung dabei empfinden kann, wenn sie den Zoo besucht, denn es passiert da ja dauernd etwas, das sie amüsieren kann.

 

Ein harmloser Text. Nicht angreifbar, da bin ich sicher. Ich merke, wie meine Hände zittern, als ich meinen PC einschalte, um die täglichen Routineabfragen durchzugehen, meine Mails zu lesen und so weiter. Ich starre auf den Bildschirm, ohne irgendetwas wahrzunehmen oder gar zu begreifen.

 

Es muss mit Wallraf zu tun haben.

 

Aber woher kann Schröder das wissen? Hat er mich beobachtet? Sehr unwahrscheinlich. Er könnte natürlich zufälligerweise – wie damals im Dom, als wir uns trafen ... Aber daran glaube ich nicht.

 

Hat er mir schon im Dom nachspioniert? Ich kann natürlich versuchen, im Ausgangsbuch nachzusehen, ob er sich am letzten Dienstag wie ich für den Zoo abgemeldet hat. Wie ich allerdings die Tatsache interpretieren müsste, dass Schröder, wenn es so wäre, ebenfalls den Zoo besucht hat, weiß ich nicht genau. Immerhin würde das erklären, warum er darauf anspielt. Es würde bedeuten, dass er mich gesehen hat. Ich überlege, welche Schlüsse er ziehen könnte, wenn er mich wirklich mit Wallraf gesehen hat. Dass Schröder mit der Aufmerksamkeit, die ihm eigen ist, sich darüber täuschen ließe, dass Wallraf und ich uns kennen und über ernsthafte Dinge miteinander geredet haben, ist nicht zu erwarten. Mit einem Blick hätte Schröder die Situation erfasst. Er muss nicht unbedingt begriffen haben, dass Wallraf ein Klon ist – Klone kommen in unserer Gesellschaft eigentlich nicht vor. Man spricht nicht darüber, sie sind nicht präsent. Sie geistern im Dunkeln als eine vage Möglichkeit, eine gefährliche Möglichkeit. Aber sie sind nicht etwas, woran man gleich denken würde, wenn man einen Kollegen mit einem Unbekannten im Zoo sprechen sieht. Andererseits: das gilt für mich. Weiß ich denn, was für Schröder gilt? Wie weit gehört Schröder auf meine Seite, wie weit auf die der anderen?

 

Was er auf jeden Fall sofort begriffen hätte, wäre die Intensität des Gesprächs. Und darin liegt etwas so Verräterisches, dass allein das genügt, mich verdächtig zu machen. Man muss sich ja nur in der Redaktion umsehen. Niemals würden irgendwelche Kollegen so miteinander sprechen. Zum Beispiel Schröder und ich: Ich will nicht so weit gehen, uns Freunde zu nennen, aber doch, in gewisser Weise sind wir es. Jedenfalls ist Schröder der Mensch von allen, die ich kenne, der hierfür überhaupt in Frage käme. Niemals jedoch sprechen wir mehr als zwei, drei Sätze miteinander und die wirklich mit allem Bedacht. Wenn ich darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass es sehr erstaunlich ist, wie nahe wir uns bei allem und trotz allem gekommen sind. Bis zu einem gewissen Grad vertraue ich Schröder. Oder ist das ein zu starkes Wort? Nicht so wie Wallraf allerdings. Bei Wallraf bin ich mir sicher, dass er keine Alternativen hat. Schröders Alternativen kann ich nur erahnen.

 

Hat Schröder mich gesehen? Mir fällt die Frau mit dem Kind wieder ein. Was war mit der? Wallraf hat sie sehr aufmerksam gemustert, und er hat sie angesprochen, offensichtlich, um sie zu vertreiben. Aber da war noch etwas. Irgendetwas. Ich bin am Ausgang mit ihr zusammengestoßen. Das ist ziemlich ungewöhnlich, finde ich, bei so vielen Menschen. Allerdings auch wieder nicht so unwahrscheinlich, dass man gleich an Absicht denken müsste. Und was sollte auch für eine Absicht dahinterstecken, es ist nicht zu verstehen.

 

Dann fällt es mir wieder ein. Da war ein Mann, der sie begleitete, der auf jeden Fall dicht bei ihr stand, als ich sie anstieß. Und ich hatte irgendwie das Gefühl, ihn zu kennen. Es war nur ein flüchtiger Eindruck. Ich habe ihn nicht richtig wahrgenommen. Konnte das Schröder gewesen sein? Definitiv nein. Den hätte ich sofort erkannt. Schröder aus den Augenwinkeln, Schröder hundert Meter entfernt auf der anderen Straßenseite, Schröder im Dunkeln – ich erkenne ihn aus Tausenden, blind fast. Ich erkenne Schröder immer.

 

Jemand aus der Redaktion? Schwer zu sagen. Das würde immerhin meine eigene Reaktion verständlich machen. Es gibt so viele, die ich ‚kenne‘, weil ich täglich an ihnen vorüberhaste, ohne dass sie sich mir ins Gedächtnis prägen. Einer könnte mich gesehen haben. Tatsächlich zufälligerweise. Vielleicht hat er meinen Zusammenstoß mit der Frau gesehen, und es Schröder erzählt. Vielleicht in gehässiger Weise: Der Zusammenstoß mit einer fremden Frau mit Kind und das kurz nachdem Arena und ich ...

 

Schweiß perlt auf meiner Stirn. Ich zittere. Ich muss die Toilette aufsuchen. Angst schlägt mir auf den Darm. Wenn ich Schröders Bemerkung als Warnung nehmen soll, bedeutet das schließlich auch, dass noch nicht alles zu spät ist, noch nicht alles entdeckt. Vielleicht bedeutete es: Nimm dich in Acht, wo immer du gehst, wirst du beobachtet. Das könnte es heißen.

 

Es ist ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber jeder von uns kennt Schlupflöcher. Kontrolle ist eben nicht immer und zu allen Zeiten möglich. Andererseits, wenn sie es wollen, kann sie es werden, kann tatsächlich rund um die Uhr und umfassend sein. Wenn sie es für nötig halten. Und dann gilt: Immer.

 

Vielleicht will Schröder mir sagen, dass ich im Augenblick, gerade weil meine Position so deutlich verändert ist, zu dem Kreis derer gehöre, die wirklich rund um die Uhr beobachtet werden. Es leuchtet mir ein. Ich soll stellvertretender Chefredakteur werden. Sie können kein Risiko eingehen. Ich hätte es wissen müssen. Ich muss wahnsinnig sein, dass ich mich immer noch mit dem Klon treffe. Er bringt mich in Gefahr. Aber inzwischen ist es wohl so, dass auch Wallraf durch mich in Gefahr geraten kann. Wenn sie mich beobachten, bringe ich sie auf seine Spur. Als ich von der Toilette zurückkomme, erlaube ich mir den Luxus, mir einen Becher Trinkwasser zu genehmigen. Den habe ich jetzt nötig.

 

Ich gehe zu Schuster in die Bibliothek. Seit damals, das ist jetzt eine Woche her, bin ich nicht wieder bei ihm gewesen, obwohl er mir einige Sachen zurechtlegen wollte. Er grinst, als er mich sieht, sagt: „Ich habe dir einige Jahresübersichten rausgelegt. Du kannst dich hier vorne hinsetzen.“ Damit deutet er auf einen großen Tisch auf der linken Seite.

 

Ich könnte mich überall hinsetzen, der große Raum ist gänzlich leer. Etwa zehn Tische stehen bereit, um Redakteuren als Arbeitsplätze zu dienen. An jedem der Tische hätten sicher mehrere Personen Platz, sie sind wirklich riesig. Aber es steht jeweils nur ein Stuhl davor. Kein PC. Natürlich arbeitet hier niemand, deswegen. Wer nimmt schon noch Bücher in die Hand? Heutzutage ist alle Information abrufbar. Man gibt ein Thema ein und in Sekunden bekommt man, was man bekommen möchte.

 

Einerseits ist die Fülle von Informationen, die man bekommen kann, unüberschaubar. Andererseits habe ich das Gefühl, es ist doch immer dasselbe. Wie soll ich sagen: Wir benutzen alle dasselbe Datenmaterial, das, das sie hineingeben, das, das wir schnell greifen können. Und dann kommt immer dasselbe dabei raus. Oft denke ich, es ist völlig gleichgültig, wer einen Artikel schreibt, jeder andere könnte das verlässlicher Weise ganz genauso. Bei den Schönschreibern ist das etwas anderes. Vor allem natürlich bei mir. Ich lese Bücher und Zeitschriften. Ich kombiniere, was ich lese auf sehr eigenwillige Weise. Deswegen bin ich so gut. Das meiste, das hier in Form von Büchern vorhanden ist, könnte ich in meinem Computer abrufen. Aber das funktioniert nur wirklich vernünftig, wenn man weiß, was man will. Wenn man sich treiben lassen, Anregungen bekommen will, muss man in den Büchern blättern, oder in den Zeitungen. Es sind oft die kleinen Notizen, die einen weiterbringen. Aber die werden vielfach gar nicht eingespeist oder sind nicht direkt abzurufen, oder man findet erst gar nicht das Stichwort.

 

Seit einigen Jahren ist es wieder modern, Bücher aufzubewahren. Ich glaube, aus den von mir beschriebenen Gründen. Man kehrt unter bestimmten Umständen wieder zurück zu den eher individuellen Recherchen. Es hat sich herausgestellt, dass unsere Redaktion nie aufgehört hat, eine Bibliothek zu führen, Bücher zu sammeln. Aber dann wurde sie wieder zugänglich gemacht. Wie gesagt, man muss einen guten Grund haben, hier zu arbeiten. Ich bin selber eher selten hier gewesen.

 

Ich blicke mich um. An den Wänden stehen Regale mit Büchern. Zu allen möglichen Themen. Auf meiner Seite Kunst, Literatur, Geschichte, Umwelt, Verkehr, Finanzen. Ich blicke verstohlen die Themen entlang. Hinten auf der rechten Seite finde ich Naturwissenschaften, Medizin, Biologie, Chemie. Unter welcher Rubrik wären Klone einzuordnen? Genetik. Es gibt keine eigene Rubrik Genetik. Jedenfalls nicht hier. Ich frage mich, ob ich ohne seine Hilfe an den Regalen entlang gehen kann, um mir die Bücher rauszunehmen. Und wo sind die anderen? Gibt es hinter diesem weitere Räume mit Büchern? Wer hat den Zugang hierzu? Schuster?

 

Ich sage: „War es sehr viel Mühe, das alles zusammen zu tragen?“

„Nein“, gibt er zur Antwort. „Wir sind gut sortiert. Es sind nur ein paar Handgriffe. Wenn du mehr brauchst, musst du es mir sagen.“ Ich bedanke mich, frage weiter, ob die Bibliothek groß ist, ob er sich gut auskennt, wie viele Räume es gibt, und ob er allein dafür zuständig ist. Er ist verblüfft, dass ich so viel frage, misstrauisch. Ich mache ein unschuldiges Gesicht, blicke ganz offen, voller Bewunderung. Ich sage: „Das ist doch eine ungeheure Verantwortung, die du da hast. Ich kann mir vorstellen, darüber in den ‚Gedanken zum Tage‘ zu schreiben.“ Hinter seinen widerlichen, dicken Brillengläsern blitzen seine Augen vergnügt auf. Er wird sofort zutraulich, wundert sich nicht mehr über meinen Wissensdurst.

 

Ich erfahre, dass die Bibliothek enorm groß ist, natürlich nicht zu vergleichen mit der Stadtbibliothek oder der Universitätsbibliothek. Ist ja nur zum internen Gebrauch. Allerdings ist das Archiv riesig und umfasst jede einzelne Ausgabe unserer Tageszeitung seit ihrer Neugründung nach dem zweiten der beiden kleinen Weltkriege des letzten Jahrhunderts. Unsere Zeitung ist tatsächlich älter, aber die Exemplare vor dem zweiten kleinen Weltkrieg sind nicht mehr erhalten. Schuster ist allein zuständig. Er arbeitet jeden Tag hier. An den seltenen Tagen, an denen er frei nimmt - er sagt nicht Urlaub, und ich kann mir vorstellen, dass er einer von denen ist, die ihr Urlaubskontingent nicht ausschöpfen –, an den wenigen Tagen bleibt die Bibliothek geschlossen. Der Zulauf ist unregelmäßig, und dennoch, bei ganz besonderen Problemen kann es sinnvoll sein, sich statt am PC an der Originalausgabe einer Zeitung selbst zu orientieren, sagt Schuster. Ich frage mich, wer das wann tun könnte. Ob es noch mehr von meiner Sorte gibt, die das Objekt Buch oder auch Zeitung lieber in der Hand halten, als die einzelnen Wörter auf dem Bildschirm flimmern zu sehen? Mich ermüdet die Arbeit am PC, nicht nur meine Augen, auch meinen Geist.

 

Einige aus der Politik und dem Vorstand können das Archiv selber benutzen. Da braucht Schuster sich nicht zu bemühen. Ich frage: „Dr. Becker, zum Beispiel?“

„Sicher“, antwortet Schuster. Und nennt noch ein paar andere Namen.

„Dr. Spengler?“ Ich weiß nicht, warum ich das frage. Ich muss nicht ganz bei Trost sein. Schuster sieht mich seltsam an, antwortet aber nicht.

„Sicher der Chefredakteur“, sage ich, so als überlege ich laut, brauche aber keine weiteren Informationen von ihm.

„Und der stellvertretende Chefredakteur?“ leicht fragender Unterton. Schuster grinst verstehend und nickt mit dem Kopf.

„Kann sein.“

Also ja.

„Zeig mir die Räume!“ befehle ich ihm.

Einen Augenblick ist er zu verblüfft, um zu reagieren. Dann sagt er entschieden: „Das geht nicht, auf gar keinen Fall!“

Ich sage: „Ich werde in Zukunft sehr viel hier arbeiten. Die ‚Gedanken zum Tage‘ erfordern schnelles Einarbeiten in die unterschiedlichsten Themen. Ich werde kaum jedes Mal eine Woche darauf warten können, dass du mir die Unterlagen raussuchst.“

Mein Ton ist jetzt etwas hochnäsig, verächtlich. Er wägt ab. Sicher hat er längst gehört, dass ich der nächste stellvertretende Chefredakteur sein werde. Wenn es erstmal offiziell ist, muss er sowieso tun, was ich sage. Wahrscheinlich kommt ihm der Gedanke, dass es nicht verkehrt ist, wenn er sich gut mit mir stellt.

„Na schön“, gibt er nach, „komm mit.“ Ich denke, dass er ein Dummkopf ist, das zu riskieren. Und korrupt. Wie alle.

 

Die Räume hinter dem Leseraum sind lange, unübersichtliche Gänge, vollgestopft mit Regalen und nur spärlich beleuchtet. Hier soll sich niemand lange aufhalten. Wenn man gefunden hat, was man sucht, nimmt man es mit nach vorne, wo Schuster es registriert. Auch wenn Dr. Becker oder ein anderes Mitglied des Vorstandes...? Selbstverständlich.

 

Es ist alles höchst unübersichtlich. Keine Themenüberschriften an den Regalen. Nur Buchstaben und Zahlenkombinationen: die Signaturen. Sicher gibt es bei Schuster eine Aufschlüsselung dafür.

„Völlig unübersichtlich“, knurre ich.

„Mein Job“, sagt er.

Immerhin erkenne ich die Zeitschriften der unterschiedlichen Jahrgänge. Die Buchstaben KSTA und Zahlen: 47/48/49/50. Das ist eindeutig. Ich versuche zu erkennen, wie weit das zurückgeht. Aber es ist ein zu großes Durcheinander. Ich frage Schuster.

„Bis 2025 natürlich“, sagt er verwundert.  Dem Jahr, in dem unsere Regierung endgültig an die Macht kam. Lange vor meiner Geburt. Meine Mutter war damals fünfzehn Jahre alt, meine Großmutter – ich muss kurz überlegen – war etwa acht- oder neunundvierzig.

„Und was ist mit der Zeit davor?“ frage ich.

„Absolute Verschlusssache.“

Ich bemerke, dass er kurz mit den Augen nach links rollt und blicke in dieselbe Richtung, sehe eine unscheinbare Tür, verschlossen.

 

Ich sage: „Das ist alles sehr interessant, Schuster, eigentlich beneidenswert, dein Job.“ Er weiß nicht, was er darauf antworten soll, überlegt, ob ich ihn verarschen will, aber ich mache noch immer mein unschuldiges Gesicht, klopfe ihm jetzt anerkennend auf die Schulter, und er beschließt, mich für den seltsamen Typen zu halten, der ich augenscheinlich bin. Ich komme gut damit durch. Ich habe den Ruf der Kauzigkeit. Jetzt bald werde ich dazu die Macht des stellvertretenden Chefredakteurs besitzen. Sie werden sich von mir einiges gefallen lassen. Ein wunderbares Gefühl von Freiheit überkommt mich.

 

Eine Weile sitze ich dann in der Bibliothek und blättere in den alten Jahresübersichten herum. Ich merke, dass ich unkonzentriert bin. Etwas geht mir im Kopf herum, etwas, das ich hier nicht lösen kann. Ich verlasse die Bibliothek, um mein Büro aufzusuchen.

 

Die Aufzüge sind gläsern. Als ich nach oben fahre, bemerke ich, dass der direkt nebenan, der von oben kommt, im dritten Stock angehalten wird. Neugierig und wegen meiner eigenen kürzlichen Erlebnisse sensibilisiert, schaue ich hin und sehe grade noch eine Frau von hinten den Aufzug verlassen. Arena? Arena. Ist sie auch zu Dr. Becker gerufen worden? Es ist das erste Mal, dass ich direkt damit konfrontiert werde, mit dem Kontakt meiner Frau zum dritten Stock. Obwohl ich natürlich seit langem weiß, dass er bestehen muss. Ob sie Dr. Becker über unsere „Begegnung“ berichtet? Eigentümlicher Gedanke. Nach seinen direkten peinlichen Anspielungen neulich mir gegenüber halte ich es durchaus für möglich, dass er Arena ebenfalls darauf anspricht. Und so, wie ich sie jetzt kennengelernt habe, bin ich mir nicht sicher, ob sie nicht tatsächlich davon erzählen wird. Den Gedanken, dass Dr. Becker vermittels Kameraaufzeichnungen vielleicht längst darüber im Detail unterrichtet sein könnte, verdränge ich unmittelbar wieder.

 

In meinem Büro überlege ich mir, ob ich es nicht doch über den PC versuchen soll. Das Problem ist, dass sie es nachweisen können. Ich kann nicht einfach ‚Klon’ eingeben. Das ist ein verbotenes Wort. Ich würde erstens keine Antwort bekommen, das ist völlig sicher, und zweitens würde ich mich zu verantworten haben.

 

Genetik. Ich kann ‚Genetik‘ versuchen. Für einen Mann in meiner Situation, der ich bald Vater werde, der ich zudem ein besonderes Risiko eingegangen bin, um es zu werden, ist ja wohl nur allzu verständlich, dass ich mich informieren möchte. Ich könnte sogar von Pflicht reden, aber das könnte als Vorwurf verstanden werden. Brennendes Interesse ist besser. Ich verliere plötzlich alle Skrupel, jedes Gefühl für Angemessenheit. Ich will es wissen.

 

Ich tippe das Wort Genetik ein. Zu allgemein. Gene: „von griech. génos, Geschlecht, Gattung: Erbanlagen,“ und so weiter, Begriff schon im Jahr 1909 eingeführt, „die genetische Einheit der Vererbung eines Merkmals von einer Generation auf die nächste, später molekular definierte Einheit der Vererbung.“ Und so weiter, Genschäden, DNS, identische DNS, Zwillinge, genetische Veränderungen, Verdopplungen, Klonen.

 

Da steht es. Ich habe es nicht aufgerufen. Es ist von selber aufgetaucht. Klonen: „Ein bei Pflanzen und anderen Lebewesen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts angewendetes Verfahren, aus einer beliebigen einzelnen Zelle (Sperma, Speichel, Haare, Haut etc.) Geninformationen zu gewinnen und durch Einsetzen in eine gesäuberte, entkernte Mutterzelle und Einpflanzen derselben in einen Aufzuchtkörper die identische Verdoppelung des Originals zu ermöglichen. Geschichte: Als 1999 erste Versuche am menschlichen Embryo angestellt wurden und gleichzeitig der Verdacht aufkam, dass man an einer Vermischung von menschlicher DNS mit solcher von Primaten experimentierte, schlossen sich die humanitär gesinnten Westeuropäischen Staaten sowie Nordamerika zusammen und beschlossen (2003) einen Stopp aller Versuche mit menschlichen Lebewesen, nicht aber mit Teilen derselben zu medizinischen Zwecken. Im Jahr 2013 schlossen sich viele Staaten der damaligen Dritten Welt sowie China und Russland dem Abkommen an. Unsere Regierung trat dem Pakt schon im Augenblick der Machtübernahme 2025 bei. Es ist nicht ausgeschlossen, dass kriminelle Regierungen und Vereinigungen an der Fortentwicklung künstlicher Menschen weitergearbeitet haben und irgendwo auf der Welt Klone bereits existieren. Klone sind unberechenbar und extrem gefährlich. Sie sind nicht als Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft anzusehen. Sie sind durch keinerlei ethische, moralische, humanitäre oder soziale Grundsätze einer wie auch immer gearteten Gesellschaft verpflichtet. Jeder, der Kenntnis von der etwaigen oder auch nur vermuteten Existenz eines Klons erfährt, ist verpflichtet, die Regierung davon umgehend zu unterrichten und den Aufenthaltsort des Klons bekannt zu geben. Andere Mitbürger sind zu warnen. Äußerste Vorsicht ist geboten. Allerdings sind bisher in unseren Breiten keine Vorfälle bekannt geworden.“

 

Anhang: „Klonen zu medizinischen Zwecken, ebenso wie zur Erhaltung der gesunden menschlichen Rasse bei der Fortpflanzung: gezielte Eingriffe in die DNS sind nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht zur Aufhebung und Vermeidung erblicher Defekte (wie verminderte Sehfähigkeit, Zuckerkrankheit, Herzfehler u.v.a.). Das Klonen einzelner Organe zum Ersatz erworbener Krankheiten ist allgemein üblich, wird aber noch nicht von sehr vielen Gesellschaften beherrscht. Hier hat sich unser Land vor allem in den letzten zwanzig Jahren hervorgetan und gehört heute weltweit zu den führenden Nationen, die dieses Verfahren anwenden. Siehe Organbanken.“

 

Unter ‚Organbanken‘ kann man einzelne Organe anwählen, muss den Grund der Störung angeben und den gewünschten Zeitraum für einen angestrebten Austausch. Das wird bereits sehr konkret. Aber kein Wort über das ‚Wie‘: wie klont man ein Herz, lässt man es im Reagenzglas schlagen, bis man es braucht, und vor allem wie kann man bestimmen, dass es ein Herz und keine Niere wird – oder kein rechtes Bein, denke ich schaudernd. Und immer wieder die Frage: wie lange dauert das, bis ein Organ groß genug ist, um eingepflanzt zu werden?

 

Warum habe ich niemals darüber nachgedacht? Warum nehme ich so vieles von dem, was um mich herum passiert, fraglos hin? Wer übernimmt eigentlich die Verantwortung für alles, was so passiert? Bisher war meine Antwort immer: Die Regierung. Aber ich habe keine Vorstellung davon, wer diese Regierung wirklich ist. In der Redaktion übernimmt der Vorstand die Realisierung der Wünsche und Vorschriften der Regierung.

 

Was ist draußen los? Ich denke an den Pöbel im Stadion, an die Menschen im Zoo: Wer setzt bei denen den Willen der Regierung durch? Verwundert denke ich: Sie selber. Sie machen einfach immer, was sie wollen, und das ist der Wille der Regierung. Und da sie immer nur die angenehmen Dinge tun, da sie sich sozusagen voller Vergnügen durchs Leben zappen, kümmern sie sich nicht darum, wer sich das Programm für sie ausdenkt. Was außerdem geschieht, nebenher, wen interessiert das schon. Und Verantwortung – das ist eigentlich ein Großmutterwort. Natürlich verwendet man es auch heute noch bei jeder Gelegenheit. Ich habe Schuster damit rumgekriegt, dass ich seinen Job verantwortungsvoll genannt habe. Einem Boten, der etwas vom vierten zum siebten Stock tragen soll, sagt man: ‚Ich gebe Ihnen die Verantwortung für dieses Päckchen‘. Das soll heißen: ‚Mach dich auf die Socken und verliere nichts‘. Es ist durchaus nötig, so etwas zu betonen, sie vergessen, noch während sie sich auf den Weg machen, ob sie es in den sechsten oder siebten Stock bringen sollen. Aber Verantwortung im Sinne einer Gesellschaft, deren Verlust meine Großmutter immer beweinte, ist etwas ganz anderes. Wenn im Stadion eine Keilerei ausbricht, ist niemand dafür verantwortlich. Wenn die gröbsten Schläger, wie es der Wunsch der Regierung ist, vor aller Augen eliminiert werden, ist das ihr eigenes Bier. Es geht niemanden etwas an. Niemand hätte so einem geholfen. Da die Überwachung des Nachbarn erwünscht ist und belohnt wird, passt man auf und meldet ihn, wenn er etwas Verräterisches tut. Was dann mit ihm geschieht, geht einen einfach nichts an.

 

Nicht, dass ich je jemanden angeschwärzt hätte. Auch Schröder hat das bestimmt nie getan. Mir ist aber bewusst, dass wir zu einer anderen Sorte Menschen gehören. Meine Großmutter würde sagen, dass wir zu der Sorte gehören, die Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen müsste.

 

Das ist leicht gesagt. Wenn ich zum Beispiel anfinge nachzufragen, was es mit dem Klonen einzelner Organe auf sich hat – wer würde mir Auskunft geben? Kann man sich vorstellen, was passierte, wenn ich ungeheuerlicher Weise den ketzerischen Gedanken ausspräche, dass mir das Klonen von Einzelteilen nicht einleuchte, dass ich im Gegenteil vermute, man klone tatsächlich ganze menschliche Exemplare, und entsorge den Rest nach Verbrauch des angestrebten Organs? Damit würde ich ja behaupten, die Regierung tue in Wirklichkeit selbst, was sie nachdrücklich verboten und mit der Todesstrafe belegt hat. Mit einem Wort, wenn ich mich durch solche Überlegungen im Sinne meiner Großmutter gesellschaftlich verantwortlich zeigte, so glaube ich, muss jedem klar sein, dass ich mich in tödliche Gefahr begäbe. Das hat meine Großmutter nicht bedacht.

 

Ich kann mir vorstellen, dass sie trotzdem verlangt hätte, dass Menschen wie Schröder und ich Verantwortung zu übernehmen hätten.

 

Und Arena? Irgendwie scheint Arena im Zentrum der Verantwortung zu stehen. Ich bin mir nicht sicher, dass meine Großmutter Arenas Art von Verantwortung gebilligt hätte. Oder dass sie Arena besonders gemocht hätte.

 

Erklären kann ich das nicht. Es gibt keinen Grund, Arena nicht zu mögen. Meine Mutter war von ihr begeistert. Was zwischen uns geschehen ist, weiß niemand. Nicht einmal ich hätte ahnen können, dass das möglich war.

 

Einer plötzlichen Eingebung folgend verließ ich die Redaktion. Ich sagte dem Pförtner, dass ich eine private Besorgung zu erledigen hätte und gleich wiederkäme. Das war okay. Außerdem blinzelte ich ihm zu, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Besorgung in Zusammenhang mit meiner Frau stand.

 

Ich nahm das Ausgangsbuch an mich und wollte mich eintragen.

„Geht schon in Ordnung“, sagte er, „lassen Sie sich nur einfach elektronisch erfassen, das reicht.“ Also hielt ich meine Uhr an die Schranke. Es war eine besondere Gunst. Es hatte mit ‚Vertrauen‘ zu tun, einfach mal eben so weg zu dürfen, ohne ausführlich zu dokumentieren, wohin man unterwegs war. Also konnte ich nicht darauf bestehen, das Ausgangsbuch in die Hand zu bekommen. Ein andermal.

 

Ich ging zum Neumarkt. Ich war voller Unruhe. Und voller Neugier und aufgewühlt. Ich wollte versuchen, diese Maria zu sehen, bevor Wallraf sie mir zeigte. Ich kann nicht sagen, was mich trieb. Nichts war mehr wie früher. Ich hatte sehr deutlich das Empfinden, dass die Dinge über mich hereinbrachen, ohne dass ich Einfluss nehmen konnte, dass ich im Grunde ein Spielball verschiedener Kräfte war, die ich nur zum Teil deuten und erkennen konnte. Da war einerseits mein ganz normales Leben, meine Existenz, die lange Zeit einfach vor sich hin geplätschert war ohne größere Ereignisse – und mit einem Mal war ich verantwortlich für die ‚Gedanken zum Tage‘. Ich war designierter stellvertretender Chefredakteur, ich hatte Karten für das Ov-Ov-Festival, wobei das schon gar nicht mehr besonders bemerkenswert schien, wenn man an die bevorstehende Beförderung dachte, oder daran, dass mein Lobgesang zu einer der offiziellen Hauptattraktionen dieses Abends werden sollte. Irgendwie hatten sich die Ereignisse überschlagen. Und dann Arena und das Zusammentreffen im Wasserturm. Jetzt, wo es hinter mir lag, wo keine unmittelbare Gefahr mehr für mich bestand, begannen die unangenehmen Eindrücke dieser Begegnung langsam zu verblassen und ihren Schrecken zu verlieren. Es blieb die Tatsache, dass ich Vater werden würde und dies von aller Welt als besondere Vergünstigung angesehen wurde. Ich machte mir keine Illusionen, es war der stellvertretende Chefredakteur, dem die Bewunderung galt und der das Privileg der natürlichen Zeugung genießen durfte. Es war normalerweise nicht erlaubt, deswegen war es ein Privileg. Und ein Privileg genoss man.

 

Es gab unzählige Schönheitssalons in den riesigen Neumarktarkaden. Vielleicht war es dumm, Maria ohne Hilfe finden zu wollen.

 

Ich dachte, dass alles, was geschehen war, ohne meine Einflussnahme geschah und irgendwie ohne direkten Bezug zu meiner Person. Es kam von wer weiß woher. Ich war eine Marionette in ihrem Spiel. Und Arena zog mit an den Schnüren. Also hatte alles vor zwei Jahren angefangen, als man mir nahegelegt hatte, Arena zu heiraten. Ob sie mich seit dieser Zeit beobachteten?

 

Ich sah einfach in jedes dieser Kosmetikgeschäfte hinein, erst von außen oder auch kurz von innen und guckte mir die Verkäuferinnen an. Ich hatte das Gefühl, dass sie alle gleich aussahen. Die meisten waren wunderschön, mit glatten Gesichtern. Sie hatten grundsätzlich schlanke Figuren, aber ausladende Hüften und ziemlich viel Busen. Sie waren fast alle rothaarig und hatten eine üppige Lockenpracht, in den meisten Fällen bis lang auf den Rücken fallend. In diesem Sommer war das die große Mode. Es wechselt fast jedes Jahr, manchmal blieb eine Mode aber auch zwei oder drei Jahre bestehen.

 

Ich gebe diesen roten Haaren keinen zweiten Sommer. Im nächsten Jahr sind sie wieder blond und nicht ganz so lang und lockig. Es hat sich als zu unpraktisch erwiesen. Arena hat mir das gesagt. Ich persönlich finde lange Haare ohnehin scheußlich, jedenfalls in dieser lockigen Üppigkeit. Sie fallen doch immer wieder aus, und man findet sie überall. Wenn man in den öffentlichen Verkehrsmitteln hinter einer Person mit langen Haaren steht, geschieht es oft genug, dass sie einem damit durchs Gesicht wischt. Das ist ekelhaft. Sie riechen auch. Der Geruch einer Person haftet in ihren Haaren. Gerüche können sehr aufdringlich sein. In diesem Jahr ist die Mode lang und rot, und ich bin froh, dass die Frauen in der Redaktion andere Standards haben.

 

Und dann Wallraf. Irgendwie versuche ich, unsere Begegnung nicht allzu sehr in mein Leben eindringen zu lassen. Aber das ist eine Illusion. Ich bin völlig verändert, seit ich ihn treffe. Ich bin Risiken eingegangen, die mich an den Rand meiner gesicherten Existenz, ja meines Lebens bringen. Auch das habe ich nicht selber herbeigeführt. Ich bin ein Spielball von Wallrafs Machenschaften.

 

Vielleicht war es mir deswegen so wichtig, Maria allein zu finden. Wenn sie mich beobachteten, müssten sie mich für besonders wählerisch halten. Oder sie ahnten, dass ich jemanden suchte. Ich musste vorsichtig sein. Ich blieb jetzt lieber ganz draußen und vertiefte mich in die Auslagen, versuchte, von da in das Innere zu blicken und ein Wesen ausfindig zu machen, das sicher dieselbe Kleidung trüge wie die anderen, sich aber in allem übrigen deutlich von denen unterscheiden würde.

 

Als ich mich dem zentralen Café näherte, in dem Wallraf und ich uns demnächst wegen Maria treffen wollten, sah ich einen besonders großen Salon, unmittelbar hinter dem zentralen Schnittpunkt auf der rechten Seite. Mir war sofort klar, dass ich hier hätte anfangen sollen zu suchen, statt meine Zeit mit den peripheren Geschäften zu vertun.

 

Ich sah sie durch das Fenster. Sie saß im hinteren Teil des großen Ladens und sprach freundlich mit einer Dame. Weitere Kundinnen wurden von anderen Verkäuferinnen bedient. Kaum ein Mann. Auch hier das gleiche Bild: Drei oder vier der typischen Rothaarigen, allerdings eine Blondine und, auffällig, eine mit sehr kurzen, rabenschwarzen Haaren. Sah aus, als trüge sie eine schwarze Lackkappe. Vielleicht war das die Mode von morgen. Maria mit ihrem glatten, gescheitelten, haselnussbraunem Haar, das sie, genau wie Wallraf es beschrieben hatte, im Nacken gebunden hielt, dessen Schwere bei einer Neigung ihres Kopfes dieser folgte und somit nicht straff zurückgehalten wurde, sondern weich ihr madonnengleiches Gesicht umspielte – Maria fiel auf und gleichzeitig ab im Vergleich mit ihren Kolleginnen. Ich versuchte, zu verstehen, warum ich diesen Eindruck hatte, und auch, ob alle anderen Menschen das ebenfalls so sehen würden wie ich.

 

Allein wegen ihrer Beziehung, ihrer ungewöhnlichen Liebe zu Wallraf – ich meine zu K1- stand zu vermuten, dass sie alles dazu tun würde, nicht aufzufallen. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, lag das aber auch in ihrer eigenen Natur.

 

Natürlich war sie angezogen wie die anderen. Sie hatte ein weißes, verhältnismäßig eng anliegendes Kleid an, dessen Gürtel die Taille betonte und dessen vordere Knopfreihe oben offenstand. Das entsprach dem Outfit der anderen. Allerdings stand der Kragen bei Maria zwar offen, ließ aber lediglich ein langgezogenes Dreieck ihrer Haut frei. Kein bisschen Busen war zu sehen, während die anderen ihre Brüste halb preisgaben, indem sie einfach einen weiteren Knopf offenließen. Und sie hatten mehr Busen, und er war hochgeschoben. Maria hatte eine herrliche Figur. Man konnte es trotz der dezenten Aufmachung erahnen. Ehrlich gesagt, sprang mir diese Tatsache sofort in die Augen. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt irgendeine Stütze für ihren Busen verwendete, ich glaube nicht. Als sie aufstand, um zu einem Regal zu gehen und ein Produkt herauszugreifen, wippten ihre Brüste ganz leicht, und ich konnte die Nippel sich im Kleid abzeichnen sehen. Sie hatte nicht so ausladende Hüften wie die anderen, war eher schmal gebaut, und der kurze Rock ließ ihre schön geformten Beine sehen.

 

Staunend stellte ich fest, dass sie perfekt war. Niemals hatte ich etwas Vergleichbares gesehen. Eine seltsame Erregung stieg in mir hoch, alle meine Sinne, meine Nerven waren aufgeregt, geradezu in Aufruhr geraten, mein Mund wurde trocken, und ich dachte, wenn ich jetzt da rein gehe, werde ich kein Wort hervorbringen und was dann. Verstohlen blickte ich zur Seite, ob man mich beobachtete. Nicht sie, irgendjemand, der vielleicht zufällig vorbeikam und meine unangemessene Reaktion mitbekam. Natürlich war das nicht der Fall, ich bin in letzter Zeit sicher überempfindlich. 

 

Sie war schöner, als ihre Kolleginnen. Sie war schöner, als jede Frau, die ich je gesehen hatte, schöner als jedes irdische Wesen, das ich mir vorstellen konnte. Und doch. Mir war klar, dass das auch an meiner Art zu sehen lag. Sie würde den anderen nicht unmittelbar als das besondere Wesen erscheinen, das sie war. Alle Mädchen hier waren jung, glatt, schön und gleich angezogen. Die Rothaarigen hatten auffallende Haare und Titten, die in die Augen sprangen. Die Schwarzhaarige zog die Blicke wegen ihrer Lackkappe auf sich. Außerdem hatte sie ein sehr betontes Hinterteil. Maria hatte alle diese besonderen Merkmale nicht, aber man registrierte ihre Schönheit, insofern gehörte sie dazu, fiel nicht aus dem Rahmen. Aber dann wandte man sich wahrscheinlich von ihr ab, weil die anderen Reize stärker waren. Genau das mussten sie beabsichtigt haben, K1 und sie. Das stille Glück, ihr Glück im Verborgenen, das niemand erahnt und wonach niemand gefragt hatte. Inmitten einer feindlichen Welt lebten sie völlig unbehelligt ihr eigenes Leben.

 

Ich versuchte, mich einigermaßen zu fassen und betrat den Laden. Die Schwarze kam auf mich zu. Ich hatte registriert, dass Maria mit ihrer Kundin bald an ein Ende kommen würde.

„Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte die Schwarze und sah mich mit glühenden Augen an. Das gehörte wohl dazu. Ich antwortete freundlich: „Ich suche ein Geschenk für meine Frau, ich würde mich gern beraten lassen, es ist für eine besondere Gelegenheit.“

„Ein besonderer Duft, vielleicht?“ schlug sie vor. Ihre Stimme hatte etwas Rauchiges, in hohem Maße irritierend. Ich antwortete: “Daran habe ich auch schon gedacht. Sagen Sie – die Dame da vorn, ihre Kollegin, ob die mich bedienen kann, wenn sie frei ist, sie erinnert mich vom Typ her an meine Frau.“ Es war ein Wagnis, sicher ungewöhnlich, die eine gegen die andere austauschen zu wollen? Sie verzog keine Miene, als sei das die größte Selbstverständlichkeit von der Welt – und vielleicht war es das ja tatsächlich, und ich täuschte mich. Ich hatte ja auch wirklich nicht die geringste Erfahrung mit diesen Frauen. Dennoch setzte ich überflüssigerweise hinzu: „Sie ist kein besonders spektakulärer Typ, müssen Sie wissen.“ Dabei versuchte ich, etwas Anerkennendes in meinen Blick zu legen, als ich ihn einen Augenblick auf ihren Busen heftete, um ihn gleich darauf zu den Hüften herabgleiten zu lassen. Wahrscheinlich wirkte ich dabei höchst albern, aber irgendwie denke ich, dass alle Männer albern wirken, die sich so an einer Frau versuchen. Es kam darauf an, ob sie das merkte, ob sie es für albern halten wollte, oder ob sie es im Gegenteil als Reverenz an ihre Schönheit akzeptierte. Sie lächelte kaum merklich. Vielleicht hielt sie mich für einen ungeschickten Wichtigtuer. Aber sie lächelte und damit war die Sache ausgestanden.

„Zeta, hier ist ein Kunde für dich“, hörte ich sie sagen, und Maria blickte mich an.

 

Hellbraune Augen mit honigfarbenen Sprengseln. Ich fühle, dass nichts auf der Welt mehr existiert außer diesen Augen, die mich ganz umfassen und einschließen, die mich zu sich hinüberziehen, so dass ich mich selbst verlasse und ganz bei ihr bin. Freundliche, aufmerksame, entgegenkommende Augen, die aber doch eine Tiefe bewahren, an die sie niemanden heranlassen, eine Tiefe voller Traurigkeit, deren Grund Maria nicht kennt, aber ich. Es ist, als stünde sie mit ihrem freundlichen Blick vor sich selbst, vor einem Vorhang, hinter dem eine Düsternis herrscht, die sie verdecken will, verdrängen, die in ihrem Leben keinen Platz haben sollte; aber jetzt ist sie da.

 

„Als mich die Augen deines Großvaters zum ersten Mal anblickten“, so hatte meine Großmutter mir erzählt, „über die einfachen Platten eines Wirtshaustisches hinweg, an dessen verschiedenen Enden wir saßen, sprachen sie mich an und erzählten mir in ein paar Sekunden mehr, als dein Großvater es selber mit seinem Mund in Jahren getan hat. Mehr, als er je wusste, gaben sie von ihm in diesem kurzen Augenblick Preis, und sie fingen mich ein und ließen mich zurück mit dem Wunsch, immer und immer von ihnen so angesehen zu werden, mein ganzes Leben lang.“

 

Ich sehe, wie die honigfarbenen Tupfen zu tanzen beginnen, als lächele sie, und dann steht eine Frage in den Augen, und ich begreife, dass sie etwas zu mir gesagt haben muss, aber ich habe nichts gehört. Ich nehme mich zusammen und wiederhole, dass ich ein besonderes Geschenk für meine Frau brauche.

 

Gleichzeitig nehme ich ihren wunderbaren Duft wahr. Er berührt meine Nase und meine Sinne, er umfängt mich vielleicht intensiver noch als ihr Blick. Ich möchte meine Nase in ihr Haar tauchen, ihre Haut berühren, ihren Geruch aufsaugen in mein Bewusstsein. Genau das tue ich, natürlich ohne dass sie es merkt. Ich missbrauche sie mit meiner Nase. Gleichzeitig denke ich an Wallraf, der ihr ebenfalls nicht widerstehen konnte. Ich hasse ihn für das, was er getan hat. Aber ich weiß, dass ich es selber tun würde.

 

Das nächste Kapitel folgt am 19.05.2024 ...