Brigitte Tietzel, die Autorin des Romans: „Durch die Hölle und zurück“, ist in Essen geboren, hat in Bonn und Florenz Kunstgeschichte studiert und ist seit dem 80er Jahren in Krefeld ansässig. Sie hat an verschiedenen Museen gearbeitet, war Direktorin des Museums für Angewandte Kunst in Köln und zuletzt des Deutschen Textilmuseums in Krefeld. Sie ist seit Jahren der Mediothek Krefeld verbunden und schreibt, seit sie im Ruhestand ist, Rezensionen zu Büchern, die teilweise in der Mediothek unter „Tietzels Tipp“ veröffentlicht werden.
Die Idee, auf der Homepage des Vereins der Freunde und Förderer der Mediothek ihren Roman als Fortsetzungsroman zu veröffentlichen, ist neu.
Vom 5. November 2023 wurden an allen folgenden Sonntagen bis zum 11. Februar (15x) jeweils zwei Kapitel des Romans auf dieser Seite veröffentlicht. Alle Kapitel verbleiben bis auf weiteres auf der Webseite.
Wir hoffen, dass dieser neue Weg bei den Mitgliedern der Mediothek Anklang und viele interessierte Leserinnen und Leser findet.
1.
Louis-Antoine de Bougainville bog langsam in die Rue de l’Ancienne Comédie ein. Er war auf dem Weg ins Café Procop, wo er Diderot treffen würde. Kein ganz angenehmes Unterfangen, wie er vermutete. Er hatte die Kutsche in der Nähe der Kirche St. Germain-des-Près verlassen, um die letzten wenigen hundert Meter zu Fuß zu gehen. Er wollte seine Gedanken ordnen, wollte sich auf die Begegnung mit klarem Kopf vorbereiten. In der Kutsche war das nicht möglich. Die schlechten Straßen bewirkten, dass man unablässig hin- und her geschüttelt wurde. Das vertrug er nicht. Als er das dachte und den Kutscher anhalten ließ, um auszusteigen, musste er leise vor sich hin lachen. Das hätte er sicher niemandem erklären können: Ihm, der als erster Franzose eine Schiffsexpedition um die Welt geleitet, der den Stürmen und Wassern der Ozeane getrotzt hatte, wurde übel in einer lächerlichen Pariser Kutsche? Und doch war es so.
Man schrieb das Jahr 1775. Jetzt im Frühjahr war die Kälte noch nicht ganz aus der Stadt gewichen, aber die Bäume zeigten bereits knospiges Grün, und hin und wieder gelang es der Sonne, ihren Strahlen eine Ahnung der kommenden Wärme mitzugeben.
Bougainville dachte an Diderot, was er von ihm wusste, und daran, was dieser sich wohl von dem bevorstehenden Treffen erwartete. Sie waren einander nie begegnet. Dabei hatte der junge Bougainville bei Jean le Rond d’Alambert Mathematik studiert und sehr jung eine Abhandlung über die Integralrechnung verfasst, die ihm hohe Ehren einbringen sollte. Und d’Alambert war später Mitherausgeber von Diderots Encyclopédie geworden. Dennoch kannte er Diderot nicht persönlich. Selbstverständlich hatte Bougainville das Fortschreiten dieses wichtigen Werkes, der Encyclopédie, verfolgt. Und die Gedanken, die sich in Paris durch die Gruppe der aufgeklärten Philosophen, mit denen Diderot sich umgab, zu verbreiten begannen, waren ihm durchaus sympathisch. Nein, die Kirche hatte kein Recht, die Menschen zu unterdrücken und ja, auch Bougainville war der unumstößlichen Überzeugung, dass nicht der Adel, der Stand, das höchste Gut der Menschen war, sondern dass es auf die Würde des Einzelnen ankam, dass jeder Mensch einen freien Willen besäße, und nach diesem glücklich werden sollte. In seinen entscheidenden jungen Jahren hatte er diese neuen, ketzerischen Ideen geradezu aufgesogen.
Aber dann hatte er Paris und Frankreich 1752 zum ersten Mal verlassen, war als Sekretär an die französische Botschaft nach London gegangen und 1756, gerade einmal 27 Jahre alt, hatte man ihn wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste in die Royal Society of London aufgenommen. Da war das Verhältnis zu England, zu den Engländern noch freundschaftlich und voller Respekt gewesen. Er seufzte, als er an diese unbeschwerten Jahre zurückdachte. Auch späterhin hatte er sich kaum in Paris aufgehalten und war schließlich sogar um die Welt gesegelt. Nein, es war keine Zeit gewesen in all den Jahren, Beziehungen zu dem Pariser Philosophenzirkel aufzunehmen.
Trotz seiner frühen wissenschaftlichen Arbeiten war Bougainville kein homme de lettres wie dieser Diderot, er war ein Mann der Tat und des Abenteuers, und er fragte sich seit Diderots Einladung zu diesem Treffen, was dieser wohl von ihm erwartete.
Im Grunde wusste er natürlich, worum es gehen würde. Worum es seit seiner Rückkehr immer wieder gegangen war: Tahiti, dieser Sehnsuchtsort, diese wunderbare Insel in der Südsee, dieses Traumland, das er leichtsinnigerweise „la nouvelle Cythère“ genannt hatte, die Insel der Liebenden. Wenn er ganz ehrlich zu sich war, steckte nicht wirklich eine Unbedachtsamkeit hinter dieser Namensgebung. Ihm war die Wirkung sehr bewusst, ja er hatte sie im Grunde kalkuliert. Als seine Reisebeschreibung Voyage autour du monde 1771 erschien, hatte sich die Aufregung darüber keineswegs gelegt. Allerdings war Aotourou da bereits auf der Heimreise gewesen. Dieser gute Wilde, wie man ihn bezeichnete, der den verwöhnten, nach spektakulären Neuigkeiten gierenden Parisern für einige Monate eine willkommene Abwechslung geboten hatte. Nun musste etwas Neues kommen.
Der König war bei Bougainvilles erfolgreicher Rückkehr hoch erfreut gewesen. Ein Jahr nach Erscheinen seines Reiseberichts hatte Ludwig ihn gar zu seinem persönlichen Sekretär ernannt, und die Leibrente war schließlich nicht unerheblich. Aber schon damals hatten sich Stimmen erhoben, die seine ruhmreiche Weltumsegelung kritisierten, ja, deren Nutzen durchaus in Frage stellten. Man ließ verlauten, dass für Frankreich, zumindest finanziell, im Grunde sehr wenig bei dem ganzen Unternehmen herausgesprungen sei.
Bougainville hatte sehr wohl begriffen, worin die eigentliche Bedeutung des gesamten Unternehmens gelegen hatte und worin eben nicht. Sie hatten China verfehlt, es war ihnen nicht gelungen, die terra Australis incognita zu finden, sie hatten überhaupt kein neues Land für Frankreich einnehmen können. Und von den wissenschaftlichen Aufgaben waren auch nicht alle erfolgreich. Véron, der Astronom, hatte vollkommen versagt. Ihm war die Aufgabe einer Längengradbestimmung auf hoher See zugekommen, aber das hatte sich als unlösbar erwiesen, zu schwierig für den armen Mann. Sicher aus Scham darüber hatte er die Boudeuse schon auf der Île de France verlassen, (heute die Insel Mauritius) um nicht mit leeren Händen vor den König treten zu müssen. Zusammen übrigens mit diesem unglücklichen Commerson und dessen …
Beschämt dachte er, dass James Cook, der Engländer, inzwischen bereits auf seiner zweiten Weltumseglung war, und dass diese Engländer ungleich professioneller dabei vorgingen als die Franzosen. Cook hatte ebenfalls Tahiti angelaufen, und im Übrigen war bereits dessen Landsmann Samuel Wallis auf Tahiti gewesen, wenige Monate vor ihm, Bougainville, was er damals natürlich nicht wusste, aber erklärte, wieso die Eingeborenen so scharf auf Nägel waren. Sie hatten durchaus den überraschenden Eindruck gewonnen, dass den Tahitianern Gegenstände aus Metall nicht gänzlich unbekannt waren und mussten sich fragen, woher das kam. Cook war später länger auf Tahiti geblieben als die Franzosen und hatte eine Reihe wunderbarer Objekte von dort mitbringen können, während sie selber sich damals Hals über Kopf davon gemacht hatten. Die Botaniker, die Cook begleiteten, waren vielleicht nicht erfolgreicher gewesen als Commerson, doch sie hatten ihre Ausbeute heil nach England gebracht, dazu von professionellen Malern dokumentiert. Außerdem entdeckten und benannten die Engländer viele neue Inseln, hatten Neuseeland umsegelt und bewiesen, dass dies nicht der große australische Kontinent war, den ganz Europa in der Südsee vermutete. Während seine beiden Schiffe, die Boudeuse und die Étoile, nur mit Mühe und einer halb verhungerten Mannschaft die holländischen Gewürzinseln erreicht hatten. Nein, wenn man es so klar vor Augen hatte, musste man sich eingestehen, dass seine Expedition nicht erfolgreich gewesen war.
Bougainville verhielt einen Augenblick seine Schritte und blickte in den leicht bewölkten, aber doch sonnigen Pariser Himmel. Das alles konnte seinen Ruhm nicht begründen. Er hatte es natürlich verstanden. Es war die Beschreibung der Menschen, denen sie auf ihrem ungeheuerlich langen Weg um die Welt begegnet waren. Dabei hatten die wirklich Wilden auf Feuerland und Patagonien allerdings das Interesse der Franzosen nur marginal wecken können. Es war die Beschreibung von Tahiti mit seinen sanften, liebenswürdigen Bewohnern, seinen schönen Frauen, die sich so willig den Fremden angeboten hatten, was die Phantasie seiner Landsleute so nachhaltig anregte. Das war ihm vollkommen bewusst. Noch heute, bei der Erinnerung an diese wenigen, aufregenden Tage, konnte es geschehen, dass ihn ein Schauer des Entzückens, aber auch eines verwirrenden Unverständnisses überzog.
Und nun hatte Diderot genau diesen Teil seiner Reisebeschreibung aufgegriffen und in seinem Supplément dazu Stellung genommen, ja er hatte das Leben dieser guten Wilden, ihre Verhaltensweisen und Motivationen so interpretiert, wie es seinen Philosophenfreunden zu Pass kommen mochte, allen voran natürlich Rousseau. Aber ihm, Bougainville, widerstrebte eine so völlig theoretische Herangehensweise. Diderot war eben ein homme de lettres. Ohne Zweifel ein kluger Mann und tiefgründiger Philosoph. Allein, Bougainville wurde den Gedanken nicht los, dass dieser Mensch nicht die Wirklichkeit im Blick hatte, sondern allzu verliebt war in seine eigenen Ideen und Worte.
2.
Bougainville betrat das Café Procop. Diderot saß mit einigen seiner Bekannten oder Freunden an einem der hinteren Tische. Die Gesellschaft schien in lebhaftes Gespräch vertieft. Einen Augenblick konnte Bougainville den bedeutenden Encyclopédisten, denn so nannte man ihn jetzt, aus einer gesicherten Entfernung betrachten. Er hatte ein feines, schmales Gesicht und lebhafte, braune Augen. Diderot war älter als er selbst, Bougainville schätzte, dass er die 60 bereits überschritten hatte. Er selber fühlte sich mit seinen 46 Jahren voller Tatendrang, aber er war ein wenig fülliger als der nahezu asketisch wirkende Diderot. Allerdings hatte dieser keine gesunde Hautfarbe, schien angegriffen. Und das hatte man auch gehört, dass Diderot im letzten Jahr nicht ganz gesund von seiner Reise zur großen Zarin zurückgekehrt war.
Als Diderot nun zu ihm herüberblickte und ihn offensichtlich erkannte, schien er seine Begleiter zu bitten, sie beide allein zu lassen. Diderot winkte ihn heran, während die Männer an seinem Tisch aufstanden, Bougainville ehrfürchtig grüßten und sich in eine andere Ecke des Cafés verzogen.
„Verzeihen Sie, wenn ich mich nicht erhebe, Monsieur de Bougainville, meine Beine machen mir wieder einmal Probleme. Seit ich aus Russland zurück bin, lässt meine Gesundheit überhaupt sehr zu wünschen übrig. Darf ich Ihnen versichern, wie sehr ich mich freue, dass Sie meiner Einladung folgen konnten?“
„Es ist mir eine Ehre, Sie zu treffen, Monsieur Diderot“, antwortete Bougainville mit einer angedeuteten Verbeugung, „und es tut mir außerordentlich leid, von ihren gesundheitlichen Problemen zu hören. Aber im Übrigen war die Reise nach Moskau wohl ein voller Erfolg, so hört man. Ihre Majestät, die Zarin, scheint eine große Bewundrerin Ihrer Ideen zu sein, Monsieur. Eine aufgeklärte Monarchin, so sagt man. Wir leben in erstaunlichen Zeiten.“
Und nachdem weitere Höflichkeiten ausgetauscht waren, kam man zum eigentlichen Thema ihres Zusammentreffens. Die Beschreibung Tahitis in Bougainvilles Reisebericht hatte Diderot dazu verleitet, ein eigenes Bild der dortigen Gesellschaft zu entwerfen und mit einem philosophischen Überbau zu versehen. Ohne die christlich begründete Moral der Europäer sei dieses Volk in all seinen Verhaltensweisen noch immer im Stande der Unschuld, und es erweise sich, dass dieser natürliche Mensch grundsätzlich gut sei, geradezu bar jeglicher Schlechtigkeit. Da jedem Bewohner alles gehöre, es also kein Eigentum gäbe, weder an Besitztümern noch Menschen, gäbe es auch keinen Hass, keinen Neid, keine Eifersucht. Kurz, es handele sich auf dieser Insel offenbar um den idealen Urzustand. Die Freizügigkeit, mit der die Insulaner ihre Frauen und Töchter den fremden Seeleuten angeboten hätten, sei in keiner Weise moralisch verwerflich. Diderot, der, obwohl selber Abbé, also Inhaber der unteren Weihen war, musste als ausgesprochener Gegner der Kirche angesehen werden. Er fand tausend Gründe, warum gerade eine falsche Erziehung zu Scham und Prüderie die Menschen im Laufe der Zeit zu den unfreien Wesen herangebildet habe, die die Europäer heutzutage als Gegenbild zu diesen guten Wilden erscheinen ließen. Darüber hinaus erwähnte Diderot, welche guten Instinkte diese ursprünglichen Menschen bewiesen hatten, welch klare Sicht auf Fakten, die den Teilnehmern der Expedition, der verehrte Kommandant de Bougainville inbegriffen, offensichtlich über Monate verborgen geblieben waren. Er spielte natürlich auf Jeanne Baret an, die als Diener von Philibert de Commerson verkleidet an seiner Schiffsreise teilgenommen und sie alle damit zum Narren gehalten hatte.
Es war ohnehin hart, dem Enthusiasmus des Philosophen seine nüchternen Überlegungen entgegen zu setzen, und Bougainville versuchte, so gut es ging, bei allem seine eigene Meinung zurück zu halten und Diderot durch Beschreibungen der damaligen Ereignisse bei Laune zu halten. Über die unerhörte Angelegenheit der Jeanne Baret ging er leichtfüßig hinweg. Es war nicht ratsam, die Begegnung der Tahitianer und dieser als Mann verkleideten Frau genauer zu beschreiben. Das ganze Drama um diese ungewöhnliche und bedauernswerte Person hatte ja nicht erst auf Tahiti angefangen, und ihr wahres Geschlecht war keineswegs allen verborgen geblieben, und ihm schon gar nicht. Aber es war ihm gelungen, auf der langen Reise selbst wie auch später in seinen Berichten, so wenig Aufhebens darum zumachen wie möglich. Und dabei sollte es bleiben.
Glücklicherweise lagen Diderots Interessen auf anderen Themen. Außerdem, so kam es Bougainville in den Sinn, mochte Diderot den Mut, der dazu gehören musste, unter solchen Umständen als Frau eine Weltumseglung zu wagen, für anerkennenswert, aber nicht für so außergewöhnlich halten. Man wusste, dass Diderot sich mit bestimmten Frauen umgab, die man in der freizügigen Pariser Gesellschaft als Abenteurerinnen bezeichnete, unverheiratete Personen, zumeist von Stand und vermögend, die nach ihren eigenen Vorstellungen lebten. Ja, dachte Bougainville noch einmal, es war eine erstaunliche Zeit, in der sie lebten. Aber diese Frauen kannten keine wirklichen Abenteuer, Abenteuer, wie Jeanne sie erlebt hatte, und keine dieser Damen, so freizügig sie auch immer leben mochten, hätte solche Strapazen auf sich genommen. Natürlich sagte Bougainville nichts von alledem.
Stattdessen lenkte er das Gespräch auf Aotourou. Diderot war sogleich Feuer und Flamme, schien dieser Mensch, der sich Bougainville geradezu aufgedrängt hatte, ihn mit auf die Reise nach Frankreich zu nehmen, doch die tatsächliche Verkörperung all seiner Überlegungen zu der natürlichen Unschuld, die Diderot dem Volk von Tahiti in seinem Supplément zusprach.
„Was nur wird der gute Mann, wenn er denn zurückkehrt, seinen staunenden Landsleuten alles über uns, über unser Land, unsere Errungenschaften erzählen können! Ich würde etwas darum geben, verehrter Bougainville, wenn ich dabei sein könnte. Er hat Paris schon vor einigen Jahren verlassen, wie man hört?“
„Ja“, erwiderte Bougainville und blickte einen Augenblick wehmütig durch das große Fenster, das den Blick auf die Straße freigab. „Aber er konnte unglücklicherweise seinem Volk keinerlei Kenntnis von unserer fremden Welt vermitteln. Er ist zwar gesund auf der Île de France angekommen, wie mich ein Brief, den ich im August 1771 erhielt, wissen ließ, und von dort sollte ihn ein Schiff in die Heimat bringen. Erst im vergangenen Jahr jedoch hörte ich von seinem Ableben auf der Weiterfahrt. Er ist den Pocken erlegen, eine tückische Krankheit.“
„Das tut mir leid.“ Einen Moment schien es, als sei Diderot tatsächlich betroffen. Dann kam er zu seinen Gedankenspielen zurück. „Stellen Sie sich nur vor, lieber Bougainville: die Kirche Notre Dame! Wie würde er ein solches Bauwerk beschreiben? Wie könnte er überhaupt Paris, diese imposanteste Stadt unseres Landes beschreiben, die Häuser und Straßen, die Menschen, die Kutschen, die Tiere! Womöglich könnte er seine Erlebnisse niemals in Worte fassen, denn die Sprache der Tahitianer ist, wie ich ebenfalls hörte und durch die Beschreibungen von James Cook erfuhr, ungeheuer rudimentär, nicht wahr?“
„In ihrem Supplément, Monsieur Diderot, haben Sie den guten Wilden allerdings reife Gedanken und Überlegungen in den Mund gelegt, die an Genauigkeit des Ausdrucks und argumentativer Konsequenz nichts zu wünschen übriglassen.“
Diderot musste lächeln, auf eine freundliche Weise fühlte er sich ertappt.
„Es sind die Ideen, die zählen, Monsieur de Bougainville, man muss sich doch fragen, auf welche Weise diese Menschen, die wir als gute Wilde betrachten, zu dem geworden sind. Ob eine anfänglich gute Natur, wenn man sie nicht weiter beeinflusst, einfach ihren Lauf nimmt, oder ob sich diese Menschen auf ein Fundament von Einsichten stützen. Wir haben der Kirche zu viel Macht über uns erlaubt, und ihr schlechter Einfluss hat uns verdorben. Würden Sie mir da nicht zustimmen?“
Auf jeden Fall widersprach Bougainville nicht. Es hatte keinen Sinn. Sie waren zu unterschiedlich. Er, Bougainville, war kein Philosoph und Diderot, das erkannte er jetzt noch besser als bei der Lektüre dieses Supplément, wusste wenig von den Menschen. Nicht, dass all die Überlegungen nicht äußerst geistreich gewesen wären. Man konnte darüber nachdenken, welche Gründe in der französischen Gesellschaft zu Missständen geführt hatten. Für Bougainville zählte etwas anderes. Die reale Begegnung mit den vielen Menschen unterschiedlichster Art, die er auf seiner Reise getroffen hatte. Es waren nicht die theoretischen Überlegungen über den Zustand dieser fremden Gesellschaften. Es war das Abenteuer der ungewissen Konfrontation, das jedes Mal anders ablief. Wie gern wäre er nicht wieder in See gestochen!
Inzwischen war Ludwig XV. verstorben. Sein Nachfolger, Ludwig XVI., war kaum zwanzig Jahre alt. Seine verwöhnte junge Frau, eine Österreicherin, kümmerte sich nicht um sein Volk und war nicht besonders beliebt. Auf dem neuen Ludwig, den man mit Freuden begrüßt hatte, lagen nun alle Hoffnungen. Er hatte ein schweres Erbe angetreten, Frankreichs Staatskasse war gänzlich leer. Bougainville erwartete nicht, dass Ludwig ein offenes Ohr für ein weiteres kostspieliges Unternehmen haben würde, dessen Erfolge, finanzieller und wirtschaftlicher Art nach allem, was man erlebt hatte, eher zweifelhaft, auf jeden Fall aber unsicher waren. Allerdings war der König an der Marine interessiert. Wer weiß, was sich daraus noch alles ergeben konnte.
Bougainville verließ das Café in bestem Einvernehmen mit dem berühmten Mann, der sofort, als sein Gast aufgestanden war, wieder von seinen Freunden und Verehrern umringt wurde.
3.
Ein Diener hatte ihm zum Nachtmahl ein Stück Braten gebracht. Dazu trank Bougainville einen kräftigen Rotwein. Im Grunde war er dieser einsamen Abende müde. Wenn er sich nicht in Gesellschaft befand, was allerdings recht häufig der Fall war, verbrachte er seine Abende allein in seiner komfortablen Stadtwohnung, nahe beim Jardin du Roi, einer angenehmen, ruhigen Gegend von Paris, im Übrigen ganz in der Nähe der Rue des Boulangers gelegen, in der Philibert de Commerson mit Jeanne Baret gelebt hatte.
Bougainville seufzte tief. Er würde endlich heiraten müssen, diese einsamen Abende zugunsten einer trauten Zweisamkeit aufgeben. Wer weiß, vielleicht würde eine Reihe von Kindern seine Tage verschönern, sein Leben auflockern. Jetzt, wo abzusehen war, dass ihm keine weiteren Expeditionen zur See mehr angeboten würden. Es gab allerdings andere Abenteuer, die vielleicht noch auf ihn warteten. Bougainville glaubte zu wissen, wohin des Königs Interesse an der Marine führen würde. Es gab Unruhen in Amerika. Man würde möglicherweise auf seine Dienste zurückgreifen wollen. Er hatte viele Talente, war ja nicht zuletzt ein Soldat des Königs. Man würde sehen. Vielleicht konnte die Heirat noch eine Weile warten. Und bei Licht besehen, musste er zugeben, dass er eine wirkliche Kandidatin noch gar nicht im Sinn hatte.
Er lehnte sich behaglich im Sessel zurück und ließ seine Gedanken schweifen. Commerson und Jeanne Baret. Er erinnerte sich genau, wann er diesen beiden zum ersten Mal begegnet war:
Rio de Janeiro, Juni 1767
„Die Boudeuse ist eingelaufen, Kapitän!“ La Giraudais, Kapitän der Étoile, erhob sich und begab sich an Deck, um die Ankunft seines Kommandanten zu erwarten. Er und Bougainville kannten und schätzten sich seit langem. Sie waren schon einmal, vor nicht allzu langer Zeit im Südatlantik gesegelt. Beide Schiffe, die Boudeuse, eine Fregatte bestückt mit 26 Kanonen unter Führung von Kapitän Duclos-Guyot und die etwas kleinere Étoile, eine Fleute, ebenfalls ein Dreimaster, die als Versorgungsschiff dienen würde, waren vor über einem halben Jahr von Frankreich aus losgesegelt. Und nun, hier in Rio, sollte ihre gemeinsame Reise um die Welt beginnen. La Giraudais seufzte. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut. Er wusste, dass Bougainville ihn schätzte und ihm vertraute. Und nun musste er ihm schon bei dieser ersten neuerlichen Begegnung mitteilen, dass die Probleme sich bereits häuften, noch ehe die Reise überhaupt begonnen hatte.
Bougainville, als Kommandant der Expedition, hatte Frankreich, den Hafen von Brest auf der Boudeuse bereits einige Zeit früher verlassen, als die Étoile, da er einen besonderen Auftrag zu erledigen hatte. Sehr zu seinem Leidwesen, ja zu seiner großen Enttäuschung, hatte Ludwig XV. ihn beauftragt, die Nouvelles Malouines (Die heutigen Falkland Inseln) an die Spanier zurück zu geben, jene Inselgruppe vor Südamerika, die er 1764 nach dem unglücklich gegen die Engländer verlorenen Krieg in Kanada für Frankreich eingenommen und eine Kolonie mit von dort geflüchteten französischen Siedlern errichtet hatte. Ludwig war an Frieden mit Spanien gelegen, und Bougainville vermutete, dass die Erlaubnis, die Welt für Frankreich zu umsegeln, nicht zuletzt abhing von der friedlichen Rückgabe dieser Inselgruppe. Inzwischen war auch alles zur Zufriedenheit seiner Majestät abgewickelt worden. Zudem war der Aufenthalt in Buenos Aires durchaus angenehm und höchst interessant gewesen.
Ende Januar 1767 war die Boudeuse vor Montevideo, im Mündungsgebiet des Rio de la Plata vor Anker gegangen. Bougainville und der Prinz von Nassau-Siegen hatten daraufhin Buenos Aires, das etwas weiter den Fluss herauf lag, auf einem kleineren Gaffelschoner, einem Zweimaster, erreicht, um die Übergaberegelungen mit dem dortigen Generalgouverneur festzulegen. Auf dem Rückweg einige Zeit später zogen die beiden Herren es wegen der ungünstigen Winde vor, den Fluss auf der gegenüberliegenden Seite von Buenos Aires zu verlassen und über Land nach Montevideo zurückzukehren. Die Reise ging durch ein nahezu unbewohntes Gebiet, dessen immense Weiten dem Auge wenig Anhaltspunkte zur Orientierung gaben, in Gesellschaft ganzer Herden von Pferden, von denen man eines einfangen musste, wenn man das eigene, erschöpfte Pferd ersetzen wollte. Die Männer erhielten einen ersten Einblick in eine völlig andere, unbekannte Welt, wie sie im Laufe der kommenden Monate noch viele erleben sollten. Sie aßen rohes Fleisch, schliefen in notdürftig aus Häuten zusammengesetzten Zelten und wurden nachts durch das Gebrüll von Raubtieren vom Schlaf abgehalten. Am eindrucksvollsten war die Überquerung von Flüssen gewesen, die teilweise wild und reißend und furchterregend waren. Man setzte die Fremden in lange, schmale, kanuartige Boote, die von links und rechts angebundenen Pferden gezogen wurden. Wenn diese den Grund nicht mehr berühren konnten, zogen sie die Boote schwimmend. Selbst für einen erfahrenen Seemann wie Bougainville waren diese heiklen Konstruktionen mehr als beunruhigend. Der Prinz von Nassau empfahl mehrere Male seine Seele zu Gott, und Bougainville ahnte, dass der gute Mann nicht zum letzten Mal auf dieser ganzen Weltreise, zu der er sich abenteuerlicher Weise entschlossen hatte, wünschen würde, er hätte es nicht getan. Ganz freiwillig war dies indes nicht geschehen. Die vielen ausschweifenden amourösen Abenteuer und die daraus resultierenden finanziellen Verbindlichkeiten des Prinzen ließen es als vorteilhaft für die Familie erscheinen, wenn man seine Ausgaben durch eine solche Reise von vornherein limitieren konnte.
Während des kurzen, etwa zwei Wochen währenden Aufenthalts in Buenos Aires war Bougainville zum ersten Mal Menschen begegnet, die man in Paris sicher als Wilde bezeichnet hätte, als primitive Wesen. Und das waren sie in der Tat. Hier nannte man sie Indios bravos. Bougainville fand sie von unbedeutender Statur, hässlich, zum großen Teil mit geradezu räudigem Hautausschlag überzogen. Sie hatten keine festen Unterkünfte und kleideten sich mit einem Umhang aus Ziegenfell. Mit Pfeil und Bogen, mit Lasso und Steinkugeln bewaffnet ritten sie zu Pferde. Ihr höchstes Bestreben war es, durch die Spanier an Feuerwasser zu kommen und sich dann bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen. Das war eine Plage, für die es kein Hilfsmittel gab. Bougainville war klar, dass diese Eingeborenen, diese Wilden, wenn man so wollte, verdorben waren, dass sie, wenn man sie mit den Ansichten eines Diderots betrachtete, eben nicht mehr die natürlichen Wilden waren, ein Volk in Unschuld. Wenn sie je unschuldig gewesen waren, hatte die Gesellschaft der Eindringlinge, in diesem Fall der Spanier, sie allerdings vollständig zerrüttet.
In Montevideo hatte man die Boudeuse inzwischen überarbeitet, den Rumpf kalfatert und die Segel ausgebessert. Neuer Proviant, Wasser und Fässer mit Bier wurden geladen. Man entledigte sich der Kanonen bis auf vier, um mehr Platz für Tiere zu bekommen, die als lebender Nahrungsvorrat wichtig waren.
Nach der Übergabe der Malouines an die Spanier wurden diejenigen französischen Siedler, die dort nicht mehr unter der Herrschaft des spanischen Königs leben wollten, von Bougainville nach Rio de Janeiro verbracht, wo er auf die Étoile stoßen und endlich, endlich seine Weltumseglung beginnen sollte. Das also war der Moment. Und obwohl la Giraudais diesen Augenblick ebenfalls herbeigesehnt hatte, fürchtete er sich vor der anstehenden Aussprache. Denn die Probleme waren nicht geringfügig.
4.
„Verstehe ich Sie richtig, lieber Giraudais? Monsieur de Commerson ist ein ausgewiesener Wissenschaftler, ein hoch angesehener Mann. Die Königin von Schweden höchst persönlich hat sich dafür eingesetzt, dass er unsere Expedition begleiten darf, um die Pflanzen und Tiere der unbekannten Länder, die wir aufsuchen werden, zu sammeln und zu bestimmen, wie er es schon in Frankreich, auch in Zusammenarbeit mit dem berühmten Linneus getan hat. (Carl von Linné (1707-1778), schwedischer Naturforscher, der die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie schuf.) Ihre Majestät, König Ludwig, hat seine ausdrückliche Begeisterung für Commersons Aufgabe kundgetan und erhofft sich großen Ruhm für unser Land durch den zu erwartenden Erkenntnisgewinn.“
„Er ist in der Tat hochgeschätzt, und ich würde mir niemals erlauben, die Bedeutung seiner Mission in Frage zu stellen. Ich habe lediglich auf gewisse Schwierigkeiten aufmerksam machen wollen, die sich vielleicht eher an seinem Diener festmachen lassen, an dem Monsieur de Commerson allerdings mit großem Ernst gelegen ist. Es ist mir peinlich das zuzugeben, aber es hat Probleme gegeben.“
„Probleme? Schwierigkeiten? Welche Art von Schwierigkeiten, mein lieber Giraudais, und wo ist Monsieur de Commerson in diesem Augenblick? Lassen Sie uns die Angelegenheit mit ihm zusammen klären.“
„Monsieur de Commerson und sein Diener, Jean Baret ist sein Name, sind heute Morgen an Land gegangen und untersuchen die Flora von Rio de Janeiro und der Umgebung der Stadt. Wie ich höre, hält sich Monsieur de Commerson selbst im Hafen auf. Er hat eine alte Wunde am Bein und ist nicht gut zu Fuß, deswegen überlässt er das Sammeln seinem Diener, der ihm die interessanten Exemplare dorthin zur Begutachtung bringt. Das geht schon seit Tagen so. Sie sind sehr erfolgreich, wenn ich das als Außenstehender und Laie begutachten sollte. Die Kabine der beiden füllt sich in erstaunlicher Weise mit ihren Fundstücken.“
Staunend hörte Bougainville seinem Kapitän zu. War Commerson, wenn er denn durch eine Verletzung behindert wurde, überhaupt fähig, die lange Reise durchzustehen, fragte er sich. Und was sollte das bedeuten, hatte Giraudais gesagt: die Kabine der beiden?
Was die Wunde betraf, so klärte La Giraudais Bougainville auf, so sei Commerson vor längerer Zeit schon und lange vor seiner Einschiffung von einem Hund gebissen worden. Er habe vielfach Schmerzen und manches Mal würde die Wunde aufs Neue anfangen zu nässen. Aber der Junge, sein Diener, sei heilkundig, habe ein erstaunliches Wissen über die Wirkung der Pflanzen, die er sammelte, auch durchaus jener, die ihm ja bisher noch völlig unbekannt seien. Aber irgendwie sei es ihm wohl durch Vergleich mit solchen Kräutern, deren Wirkung er im heimischen Frankreich beobachtet habe, möglich, Zusammenhänge herzustellen, und auf jeden Fall gelänge es diesem Jungen immer wieder, die Wunde zu beruhigen und das Nässen zu stoppen. Erstaunlich sei dies. Und was die Kabine der beiden anging, da genau lägen eben die genannten Schwierigkeiten. Dann erzählte La Giraudais seinem Kommandanten, was geschah, als Commerson und sein Diener zuerst in Rochefort an Bord gekommen waren. Auf den ersten Blick hatte der Kapitän die gewisse Hilflosigkeit der beiden erkannt.
Zwei Matrosen beobachteten das Herannahen der Kutsche. Ein Herr stieg aus, dem man die blasierte Vornehmheit von weitem ansah. Er hatte einen Diener von eher zarter Natur dabei, der sich um das Gepäck kümmerte und zusammen mit dem Kutscher eine Vielzahl von Kisten und Kästen aus der Kutsche lud und auf den Boden vor dem Anleger des Schiffes auftürmte. Die Matrosen pfiffen belustigt durch die Zähne. La Giraudais, der hinzukam, ließ sich vernehmen. „Das wird Monsieur de Commerson sein. Er ist Arzt und Botaniker. Er reist auf Wunsch seiner Majestät, des Königs von Frankreich mit uns. Er wird unterwegs Pflanzen sammeln und Kenntnisse über fremde Tiere. Behandeln Sie ihn mit Hochachtung, meine Herren. Ihm darf es hier an Bord an nichts fehlen.“
„So, so, Arzt ist er“, machte Vivès verächtlich, „er sieht nicht aus, als könne er Blut sehen.“
François Vivès, Schiffsarzt und Chirurg auf der Étoile, betrachtete die Gestalt da unten auf dem Quai in ihren seidenen Kleidern voller Missgunst. Eine ernst zu nehmende Erscheinung für einen Arzt schien ihm das nicht zu sein.
„Pflanzen“, fügte er dann noch hinzu und wiederholte die Worte des Kapitäns, „fremde Tiere!“ Es hörte sich an, als spucke er dabei aus. Dann wandte er sich um und ging davon.
„Schnuckeliges Kerlchen, das der da bei sich hat“, sagte einer der beiden Matrosen. Die Worte waren nicht für La Giraudais bestimmt. Aber der hatte sie wohl gehört, ebenso wie die Bemerkung von Vivès. Man war klug beraten, nicht alles, was man nebenbei mitbekam, auch zur Kenntnis zu nehmen.
Inzwischen schien es, als habe Commerson begriffen, dass dies die Étoile war und also sein zu Hause für die kommenden Monate und Jahre. Er hatte sich kurz informiert bei einem der Arbeiter, die dabei waren, das Schiff zu beladen, und schritt nun bedächtig über den Anleger auf Deck. Um das Gepäck oder den Diener kümmerte er sich nicht weiter. Der Bursche schien die Kisten und Säcke zu ordnen und trug einen Teil hinter seinem Herrn her.
Die beiden Matrosen pfiffen wieder durch die Zähne und stießen sich lachend in die Seite.
„Hey, du!“ rief der eine. „Trägst du den Sack, oder trägt der Sack dich?“ Sie lachten noch lauter. Der Junge schwitzte. Er senkte den Kopf und wollte an den beiden vorbei, aber sie stellen sich ihm in den Weg. „Du bist jedenfalls kein Matrose. Bist du überhaupt schon mal auf einem Schiff gewesen?“ Der Junge hob widerwillig den Blick und schüttelte den Kopf.
„Was hat denn dein Herr in all den Kisten zusammengepackt? Glaubt er, das hier ist eine Vergnügungsreise?“
„Wie heißt du?“ fragte er dann unvermittelt.
Wieder ein kurzer, scheuer Blick von unten auf die beiden kräftigen Kerle vor ihm.
„Jean“, kam es von dem Jungen.
„Jean also.“ Es entstand eine kurze Pause. Dann sagte der, der die ganze Zeit gesprochen hatte: „Ich bin Pierre, und das hier ist Émile. Komm Émile, wir helfen diesem Jean. Sonst geht ihm noch die Luft aus, ehe er überhaupt angeheuert hat.“ Wieder lachte er. Es hörte sich nicht böse an.
„Danke“, sagte Jean und fügte hinzu: „Ich bin der Diener von Monsieur de Commerson. Ich muss die Sachen in seine Kabine bringen. Es sind Gerätschaften, die er für seine Tätigkeit braucht. Er ist Botaniker.“
Von der Kommandobrücke aus hatte La Giraudais die Szene beobachtet, und ihm war sofort ein Gedanke gekommen. Dieser Commerson hatte offensichtlich keine Ahnung von den beengten Verhältnissen auf einem Schiff. Was dachte er sich dabei, mit dieser Unzahl von Gepäckstücken hier aufzukreuzen? Die Étoile hatte eine Länge von ca. 30 Metern bei einer Breite von 10 Metern, und diesen Platz mussten sich 116 Männer auf vier Decks teilen.
„Ich nehme an, Sie haben nur die nötigste Ausrüstung für ihre Forschungsarbeit mitgebracht, Monsieur de Commerson“, konnte er sich nicht enthalten, in äußerst freundlichem und höflichem Ton zu bemerken. Commerson schien zu begreifen. Er machte eine bedauernde Geste und erwiderte, dass in der Tat seine Aufgabe mancherlei Gerätschaften erforderlich machte und es auch und vor allem Gelegenheiten geben müsse, die zu sammelnden Objekte zu lagern und aufzubewahren, um sie wohlbehalten nach Frankreich bringen zu können. Und da hatte Giraudais ihm aus einer Eingebung heraus, die Kapitänskabine angeboten. Sicher, es geschah aus dem Moment heraus. Und ganz spontan. Aber es zeigte nicht nur Giraudais Großzügigkeit einem Gast gegenüber, dessen Wohlwollen er sich zu erhalten wünschte, umso mehr natürlich als die Konfrontation eines völlig Unerfahrenen mit all den Unbequemlichkeiten und Misshelligkeiten auf hoher See zu äußerst unangenehmen Situationen führen konnte. Es gab Giraudais nämlich darüber hinaus die Gelegenheit, selber sehr viel näher bei seiner Mannschaft zu logieren. Ein solches Schiff zu leiten – jedes Schiff zu leiten – bedeutete eine ungeheure Kraftanstrengung und ein Wagnis. Es verlangte Verstand, Stärke, Autorität, psychologisches Einfühlungsvermögen. Er wusste, dass seine Matrosen niemals ein Wort der Missbilligung gegen ihn äußern würden. Aber hier, in ihrer unmittelbaren Nähe, wäre es leichter, von Problemen, wenn sich solche ergeben sollten, zu hören und gegenzusteuern. Denn dass die Matrosen sich niemals gegen den Kapitän erhoben, war ja keineswegs vollständig wahr. Man hatte anderes gehört. Je länger eine solche Fahrt dauerte, je mehr Strapazen man zu erleiden hatte, etwa wenn Wind und Wetter und Hungersnöte die Menschen an den Rand des Abgrunds brachten, desto mehr lief ein Kapitän Gefahr, die Verantwortung für alles aufgehalst zu bekommen. Das konnte gefährlich werden. Es konnte nützlich sein, wenn er von Anfang an mitten unter seinen Leuten schlief, um eventuelle Unruhen frühzeitig mitzubekommen. Außerdem hatte er bei Vivès ein ungutes Gefühl. Er kannte ihn erst seit kurzem. Er schien ein erfahrener, hart gesottener Chirurg auf See zu sein. Und hart gesotten mussten diese Kerle sicher sein. Aber er war nie mit ihm gesegelt, die Zusammenarbeit war neu. Und er hatte eben kein gutes Gefühl. Der Mensch machte einen bitteren, einen unzufriedenen Eindruck. Giraudais kannte solche Leute, die zur See gingen, um einem noch schlechteren Leben an Land zu entfliehen. Worin auch immer dieses „Schlechtere“ bestanden haben mochte.
Was La Giraudais nicht wusste war, welch großen Gefallen er dem Botaniker und seinem Gehilfen mit seinem Angebot gemacht hatte. Welch übergroße Erleichterung die relativ geräumige Kabine für diese beiden unerfahrenen Mitreisenden bedeutete. So konnten sie ihr ungeheuerliches Geheimnis noch eine Weile für sich behalten. Wenngleich sich herausstellen sollte, dass dieses so offensichtlich vorteilhafte Arrangement keineswegs gänzlich ohne Tücken sein würde.
5.
Frankreich 1745, La Comelle-sous-Beavray
„Maman!“ Jeanne Pochard blickte auf ihre kleine Tochter herab, die neben ihr saß, während sie ihr aus der Bibel vorlas und die sie jetzt mit ihren schönen, kindlich strahlenden Augen ansah. „Ja, meine kleine Jeanne?“
„Maman, die Geschichten, die Sie mir erzählen, die finden Sie alle in diesem Buch, nicht wahr?“
„Ja, natürlich, das weißt du doch. Die stehen alle in der Bibel.“
„Aber wie können Sie die Geschichten darin finden?“
„Wie meinst du das? Ich lese sie dir doch vor. Sie stehen hier alle geschrieben.“
Das kleine Mädchen zögerte einen Augenblick und sagte dann: „Ich habe auch in das Buch geguckt, Maman, ich habe es gestern in die Hand genommen, als Sie es auf dem Tisch haben liegen lassen, um mit der Nachbarin zu sprechen. Ich kann aber keine Geschichten darin finden. Ich sehe nur diese schwarzen Zeichen.“ Jeanne Pochard unterdrückte ein Lächeln. „Das sind Buchstaben. Man muss sie kennen. Dann kann man lesen. Und dann sieht man auch die Geschichten, die sie erzählen.“
„Was bedeutet das?“ Jeanne Pochard überlegte einen Moment. „Es ist so: du hörst, was ich sage. Aber manchmal hörst du nicht gut zu, oder du vergisst es. Wenn ich dir aber meine Worte aufschreiben würde, dann könntest du immer wissen, was ich von dir wollte.“ Die Augen der kleinen Jeanne blieben ernst. „Es ist wie bei deinen Bildern“, sagte die Mutter, „du malst eine Blume. Du siehst die Blume vor dir draußen. Dort steht sie still an ihrem Platz. Jetzt malst du sie und kommst zu mir in die Küche und zeigst sie mir, und ich erkenne sie. Ich weiß, welche Blume es ist. So ist das mit den Worten. Wenn du sie gemalt hast, man nennt das schreiben, dann sagen sie demjenigen, der sie liest, was sie bedeuten. Und so kommen die Geschichten in die Bibel.“
„Maman, da sind so sehr viele Buchstaben in der Bibel. Gibt es wohl genauso viele Buchstaben wie es Blumen gibt?“
Blumen, die Natur überhaupt, war die große Leidenschaft der kleinen Jeanne. Die Mutter lachte. „Nein, mein Liebling. Es gibt sehr viel mehr Blumen als es Buchstaben gibt.“„Und wie viele Buchstaben gibt es? Kennen Sie die alle?“
„Natürlich kenne ich sie alle. Man muss sie alle kennen, sonst kann man nicht lesen. Etwas über zwanzig, glaube ich, ja so viele. Ich müsste sie zählen.“
„Und zwanzig, das sind nicht so viele?“ Das kleine Gesicht bekam einen grüblerischen Ausdruck. Es war Anfang September. Sie hatten erst vor kurzem Nüsse gesammelt. Jeanne Pochard zählte zwanzig Nüsse auf den Tisch. Die kleine Jeanne berührte eine nach der anderen, drehte sich dann, offensichtlich überzeugt, dass eine solche Menge, obwohl nicht gerade klein, zu bewältigen wäre, entschlossen zu ihrer Mutter um und sagte. „Maman, ich möchte die Buchstaben kennenlernen. Glauben Sie, dass ich das kann? Und wenn ich sie gelernt habe, kann ich dann lesen? Helfen Sie mir, lesen zu lernen, Maman?“
Mit Staunen und Freude schloss Jeanne Pochard ihr Kind in die Arme. Es war nicht das erste Mal, dass die kleine Jeanne sie in Erstaunen versetzte. Sie war erst fünf Jahre alt, ein ungewöhnlich aufgeschlossenes Kind, neugierig, wissbegierig. Und immer lief sie draußen herum, pflückte Blumen, sammelt sie geradezu, versuchte sie zu bewahren, wenn sie besonders schön waren.
„Ja, meine kleine Jeanne“, sagte sie jetzt, „ich will dir gern helfen. Und dann lese ich dir nicht mehr aus der Bibel vor, sondern du wirst das tun, wenn ich von all der Arbeit abends zu müde bin.“
Die Kleine jauchzte und klatschte in die Hände vor Begeisterung.
„Hier“, sagte die Mutter und zeigte auf ein Wort in der Bibel. „Siehst du das? Das Wort bedeutet Jesus. Und der erste Buchstabe, siehst du? Das ist ein J. Das ist derselbe Buchstabe, mit dem dein Name anfängt: Jeanne.“„Und Ihrer.“
„Ja, und meiner. Versuch einmal, ein J in den Sand zu malen.“ Mit Feuereifer nahm die Kleine einen Stock in die Hand und versuchte, ein J in den Boden vor der Küche zu zeichnen.
„Der zweite Buchstabe hier im Wort für Jesus ist ein e. Das ist auch der zweite Buchstabe in deinem Namen.“ Als sie beim n angekommen waren und also in ungelenker Schrift der Name Jean in den Sand geschrieben stand, sagte die Mutter: „Das heißt Jean. Weißt du wer das ist?“„Natürlich. So heißt Papa!“
„Richtig. Und weil Papa ein Mann ist, heißt er Jean. Und weil wir beide Frauen sind, na ja, du wirst einmal eine werden, nennt man uns Jeanne und wir bekommen noch ein zweites n und ein weiteres e für unsere Namen.“
Es schien ganz leicht. Sie würde lesen lernen. Das geheimnisvolle Buch, die Bibel, aus der die Mutter schon so viele Geschichten vorgelesen hatte, würde ihr nicht länger mehr verschlossen bleiben. Sie strahlte ihre Mutter an, ergriff das Buch und drückte es voller Begeisterung an sich. Jeanne Pochard nahm es ihr sanft ab und sagte: „Wir müssen ein bisschen vorsichtig sein, meine kleine Jeanne. Wir sagen es niemandem, was wir vorhaben. Es wird Papa nicht unbedingt gefallen, hörst du. Er wird glauben, dass wir darüber die Arbeit vernachlässigen. Ich auf dem Feld und im Haus und du bei all den häuslichen Aufgaben. Papa kann nicht lesen. Er hält es für überflüssig, weißt du, auch ein bisschen für Zeitverschwendung.“„Liest er denn nicht in der Bibel?“
„Nein. Er lässt sich vorlesen. Am Sonntag in der Kirche. Das genügt ihm.“
Und so schlossen sie einen Pakt, und so lernte Jeanne Baret lesen.
Ganz gerecht war es nicht, was sie ihrer Tochter über ihren Mann gesagt hatte. Aber es war einfacher, alles auf den Willen des Vaters zu schieben. Das wurde nicht hinterfragt. Später, wenn das Kind verständiger wäre, würde sie ihre Tochter natürlich in die Konflikte einweihen, die mit ihrer hugenottischen Religion zusammenhingen. Viele ihrer Glaubensbrüder hatten Frankreich vor etwa 60 Jahren verlassen müssen, als man die Ausübung ihres besonderen Glaubens verboten und die unmittelbare katholische Taufe eines jeden Säuglings von Staats wegen vorgeschrieben hatte. Jean Baret, den sie geheiratet hatte, war Katholik. Er hatte sich nicht viel darum geschert, zu welchem Gott sie betete und ob es vielleicht einen Unterschied zwischen dem katholischen und dem hugenottischen Gott gäbe. Auch sie wollte sich nicht mehr mit diesen Dingen befassen. Jean war ein guter Mann, ein fleißiger Mann, einer der sie gut behandelte. Sie hätte es viel schlechter treffen können. Dass er weder lesen noch schreiben konnte, was machte das schon. Das spielte in ihrem von harter Arbeit für ihren Landesherrn bestimmten Leben keine Rolle. Sie selber fand Trost in der Lektüre der Bibel und Jean ließ sie machen. Das Kind war getauft, man ging sonntags zur Messe. Nach außen war alles in bester Ordnung. Niemandem kam es mehr in den Sinn, ihren Glauben zu hinterfragen.
Das war im Haus ihrer Eltern noch anders gewesen. Natürlich war man auch dort des Sonntags in die katholische Kirche gegangen. Aber der Vater hatte darauf bestanden, die rechtmäßige Bibel im Kreise der Familie zu lesen. Er hatte auch dafür gesorgt, dass alle seine Kinder lesen und schreiben lernten. Es war eine lange und gute Tradition, jeden Menschen an der Möglichkeit, Wissen zu erwerben, teilhaben zu lassen. Ganz abgesehen davon, dass ein jeder selber die Bibel lesen können sollte. Jeanne Pochard liebte ihre Eltern und sie war ihnen dankbar für alles, was sie von ihnen gelernt hatte. Aber das Leben war hart. Der Vater war sehr streng und gottesfürchtig. Er hasste Unrecht in jeder Form und war unerbittlich gegen jedermann, von dem er glaubte, dass er sich nicht rechtschaffen verhielt. Damit machte er sich nicht nur Freunde. Im Grunde war er unbeliebt und machte sich durch solche Haltung das Leben unnötig schwer. Hinzu kam, dass die Namen ihrer Eltern, Nicolas Esaic Pochard und Elisabeth Grandjean, für jeden erkennbar hugenottisch waren. Deswegen war es angeraten, äußerst vorsichtig zu sein, um nicht etwa durch ein falsches Wort aufzufallen. Denn noch immer wurden Hugenotten, wenn man sie überführen konnte, verfolgt und hart bestraft. Jeanne Pochard war es leid gewesen, sich in Acht nehmen zu müssen. Mit einem katholischen Mann und einem katholisch getauften Kind brauchte sie keinen Verrat mehr zu fürchten. Die Bibel war die Bibel. Die kleine Jeanne würde rechtzeitig den Unterschied merken, dafür würde sie sorgen.
6.
Frankreich 1761, Toulon-sur-Arroux
Philibert de Commerson atmete tief die frische Septemberluft ein, während er über die sonnigen Wiesen seiner neuen Heimat streifte. Er lebte erst seit knapp einem Jahr in Toulon-sur-Arroux, seit er im Oktober 1760 Marie-Antoinette-Vivante Beau geheiratet hatte. Er fühlte sich, als sei er am Ziel all seines Strebens angelangt. Er war jetzt 32 Jahre alt, gesund und durch seine Heirat mit der wohlhabenden Antoinette endlich finanziell unabhängig. Der Weg war nicht ganz einfach gewesen, da sein Vater zunächst darauf bestanden hatte, dass er die Rechte studieren und ihm als Anwalt nachfolgen sollte. Aber Philibert wollte sich anders orientieren.
Es war einer seiner frühen Lehrer, ein Jesuitenpater, der seinen Schülern Gottes Größe in der unglaublichen Vielfalt seiner Schöpfung vorführte. Die regelmäßigen Ausflüge in die Natur lehrten die Schüler, die Dinge zu beobachten. Für Commerson war dies der Beginn einer Leidenschaft, die ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte und schließlich dazu führte, dass er das Studium der Rechte nicht nur vernachlässigte, sondern völlig aufgab. Mit Begeisterung untersuchte und sammelte Commerson fortan Pflanzen und Tiere und erkannte durch die fortgesetzte Beobachtung der verschiedenen Arten deren besondere Beschaffenheit und auch, dass ein System hinter allem zu stecken schien. Gerade in solchen Gesetzmäßigkeiten offenbarte sich ihm, wie es sein Lehrer vorhergesehen hatte, das Wirken und Wollen einer göttlichen Macht. Fortan widmete sich Philibert de Commerson mit Leidenschaft der Botanik. Als sein Vater von dieser unglücklichen Wendung seiner eigenen Pläne für seinen Sohn erfuhr, sperrte er ihm das Geld und wollte ihn so zwingen, zu den ursprünglichen Studien zurückzukehren. Schließlich einigte man sich darauf, dass ein Medizinstudium ein akzeptabler Kompromiss für beide Seiten darstellen würde.
Es folgte ein Studium an der Universität von Montpellier, wo Commerson neben den medizinischen auch seine botanischen Studien im Garten der Universität weiter kultivieren konnte. Und schließlich, nach Abschluss der Studien, dachte Commerson keinen Augenblick daran, den ehrenwerten Beruf des Arztes auszuüben und reizte seinen Vater mit neuerlichen Ausflügen in die Natur, die ihn in die entlegensten Gegenden Frankreichs, in die Pyrenäen, aber auch in die Schweiz führten, wo er unter anderem freundschaftliche Beziehungen zu Voltaire unterhielt. 1755 dann erhielt Commerson den ehrenvollen Auftrag, zur Vollendung der Systema naturae des schwedischen Wissenschaftlers Linneus beizutragen. Der schwedische Forscher, unterstützt von seiner Königin, Louisa Ulrika, suchte nach Helfern und Mitarbeitern, die die Komplettierung seines Katalogs aller bekannten Spezies an Tieren und Pflanzen vorantrieben.
Obwohl dies lediglich eine zeitweilige Beschäftigung blieb, ohne große finanzielle Vergütung, hatte sie doch sehr zu seiner allgemeinen Bekanntheit und Wertschätzung unter den französischen Naturwissenschaftlern beigetragen und Bernard de Jussieu, der Direktor des Jardin du Roi in Paris, hatte ihn sogar eingeladen, für ihn zu arbeiten. Nach wie vor jedoch war Commerson vom Geld seines Vaters abhängig, und der väterliche Druck führte schließlich doch noch dazu, dass er als Arzt tätig wurde. Was ihn nicht davon abhielt, weiterhin teilweise recht gefährliche Ausflüge in Gegenden zu machen, in denen er besondere Pflanzen vermutete. Nicht selten fügte er sich bei gewagten Situationen Verletzungen zu, stürzte auch schon mal von kleineren Felsen ab. Besonders unangenehm war der Biss eines rasenden Hundes, den man für tollwütig hielt, was er aber offensichtlich nicht war. Mönche pflegten ihn, aber er musste über drei Monate das Bett hüten. Für den Rest seines Lebens sollte Commerson an dieser gemeinen Wunde leiden.
Aber schließlich, nach vielem Hin und Her hatte er mit seiner Heirat die endgültige Lösung für alle Probleme gefunden. Antoinette war nicht mehr ganz jung, genauer gesagt war sie sieben Jahre älter als er. Aber sie war von angenehmem Äußeren, hatte eine liebenswürdige Art des Umgangs und vor allem schätzte sie seine Interessen, ja sie begleitete ihn vielfach auf seinen Ausflügen in die Natur. Und nicht zuletzt war sie sehr vermögend. Commerson konnte sein Glück zunächst gar nicht fassen, als er begriff, dass sie noch frei und zu haben war. Hatte wirklich niemand vor ihm versucht, Antoinette zu erobern? Sie war allerdings sehr selbstbewusst und hatte einen scharfen Verstand. Er schmeichelte sich, dass vielleicht hierin ihre Ablehnung möglicher Kandidaten gelegen haben mochte. Ihr fortgeschrittenes Alter war für Commerson kein Nachteil. Er hatte gehofft, dass hierdurch eine Gefahr abgewendet wäre, die er allgemein in einer Heirat gefürchtet hatte. Darin allerdings sah er sich getäuscht. Antoinette war guter Hoffnung.
Während Philibert de Commerson seinen Gedanken nachhing, fiel sein Blick auf eine weibliche Gestalt, die in einiger Entfernung ihren Blick auf den Boden geheftet, unbekümmert durch die Felder streifte. Es war das zweite Mal, dass er diese Person erblickte. Sie sammelte offensichtlich Kräuter. Auf jeden Fall sah sie sich die Blumen und Pflanzen genau an, manche schnitt sie ab und tat sie in einen Korb. Aber er hatte auch schon beobachtet, dass sie die Pflanzen mit der Wurzel ausgrub. Er dachte, dass sie eine dieser Kräuterfrauen sein müsse, die ein gewisses Verständnis von der Wirkung bestimmter Wurzeln, Blätter und Blüten besaßen. In Toulon-sur-Arroux kannte er eine alte Hexe, die er manchmal zu Rate zog, wenn er bestimmte Mittel benötigte. Nein, eine Hexe war sie natürlich nicht. Sie war sogar recht freundlich und zuverlässig. Aber eben alt und ziemlich arm. Sie hatte ihm immer helfen können. Merkwürdig war, dass sie keine Ahnung von dem Aufbau der Pflanzen hatte, deren Wirkungen sie so gut kannte. Es war auch unmöglich, irgendeine sinnvolle Aussage über Zusammenhänge von ihr zu bekommen. Er hatte ihr bei Gelegenheit ein Blatt aus seinem Herbarium gezeigt. Es war eine Brennnessel gewesen, ein sehr gewöhnliches Kraut, und er wusste, dass sie daraus einen Sud kochte und dass sie einen Tee daraus für bestimmte Krankheiten, die die Blase oder Nieren angingen, empfahl. Aber diese Hexe – wenn er sich recht erinnerte, hieß sie die alte Marie – hatte mit seinen Abbildungen nicht viel anfangen können. Und natürlich konnte sie weder lesen noch schreiben.
Er sah noch einmal zu der weiblichen Person hin, die ihn gar nicht zu bemerken schien. Sie war jung. Ihre Kleidung war schlicht. Es musste sich um die Tochter eines einfachen Tagelöhners handeln, wie sie hier die Felder der Landesherren bearbeiteten. Wahrscheinlich war sie auf dem besten Weg, eine solche Kräuterhexe zu werden wie die alte Marie. Wenn er ihr noch einmal begegnete, würde er sie ansprechen.
7.
„Jeanne, bring den Kleinen nach draußen, er ist dabei, meine Pflanzen durcheinander zu bringen.“
Der Kleine, das war François Archambaud, Commersons zweijähriger Sohn. Seine Frau, Antoinette, war ein paar Tage nach seiner Geburt verstorben und hinterließ ihrem Mann ein Haus, das Vermögen und die Verpflichtung, den Jungen groß zu ziehen, ihrer beider Nachkomme und damit letztlich der Garant für Commersons Verfügungsgewalt über all die hinterlassenen Güter.
Commerson hatte seine Frau sehr geschätzt, ihre kurze Ehe war harmonisch verlaufen, voller gegenseitigem Respekt und, ja, einer gewissen Zuneigung. Auch empfand Commerson ein freundliches Gefühl für das kleine Wesen, das unschuldig schuldig war am Tod seiner Mutter. Aber er konnte sich nicht wirklich um das Kind kümmern. Es gab selbstverständlich eine Amme, und das Dienstpersonal versorgte ihn mit allem, was sein Leben weiterhin erträglich machte. Aber nach einer Zeit der angemessenen Trauer wurde es ihm doch lästig, mit allem, was die Angelegenheiten der Haushaltsführung anging, befragt zu werden. Er hatte ja endlich, mit seinem Umzug nach Toulon, die ärztliche Tätigkeit aufgenommen und außerdem verlangten seine botanischen Studien, die weit mehr waren als ein einfaches Hobby, ebenfalls einen großen Teil seiner Zeit. So kam es, dass er zwei Jahre nach der Geburt seines Kindes und dem Tod seiner Frau, im April 1764 Jeanne Baret als Haushälterin in sein Haus holte.
Er hatte die junge Frau, der er mehrfach in den Wiesen zwischen Toulon und La Comelle, dem Ort, aus dem Jeanne stammte, begegnet war, schließlich angesprochen. Sie war in der Tat, wie er schon vermutete, eine jener Frauen, die von der heilenden Wirkung bestimmter Kräuter Kenntnis besaßen und auf deren Hilfe viele Mediziner im Grunde angewiesen waren. Auch die alte Marie hatte ihm ja mehr als einmal mit bestimmten Mittelchen geholfen, wofür er sie jedes Mal auch angemessen entlohnte. Die armen Weiber lebten von dieser Zusammenarbeit. So oft Commerson aber mehr aus diesen Frauen an Wissen herausholen wollte, war er doch jedes Mal gescheitert. Offensichtlich gab es einen Kodex unter ihnen, der sie ihr Wissen für sich behalten ließ. Commerson verstand das. Umso erstaunter war er, als er Jeanne traf – Jeanne Baret, so nannte sie ihm ihren Namen –, dass sie sich nicht nur mit Heilpflanzen auskannte, sondern ein darüberhinausgehendes, allgemeines, tieferes Verständnis an der Pflanzenwelt bekundete. Und dass sie ganz offensichtlich bereits zahlreiche Beobachtungen zu den verschiedenen Arten gemacht hatte, ohne doch die wissenschaftliche Einteilung und Kriterien zu kennen, wie Linnaeus sie vorschrieb. Sie hatten sich wahrhaftig austauschen können. Und während Jeanne entzückt und geschmeichelt über das Interesse dieses vornehmen Herrn an ihrer Person war, reifte in Commerson der Gedanke, diese ungewöhnliche Frau an sich zu binden. Im Haus konnte sie seine Diener überwachen, mit ihnen alle lästigen Notwendigkeiten besprechen, ihm mit einem Wort den Rücken frei halten, und für seine Arbeit würde er endlich eine Art – ja, er musste es wohl so sehen – Partner bekommen, mit dem er verständiger als mit jedem anderen Menschen seiner Umgebung reden konnte. Das schien unfassbar und von großem Vorteil. Als er ihr seine Herbarien zeigte, begeisterte sie sich sofort dafür und verstand, welcher Nutzen daraus gezogen werden konnte. Sie war gescheit, interessiert und brachte viele Dinge, die er in den letzten Jahren gesammelt hatte, in eine Ordnung, die er ihr vorgab, aber selber aus Gründen einer gewissen lethargischen Veranlagung nicht unbedingt immer beizuhalten im Stande war. Daraus hatte sich eine innige beiderseitige Zuneigung entwickelt.
Dem Hauspersonal war diese Wendung nicht verborgen geblieben. Die Frauen blickten mit Neid auf diese dahergelaufene Person, die sich mit den dämlichen Pflanzen so wichtigtat. Es gab Unordnung und Schmutz durch diese Pflanzen und „Madame“, wie sie Jeanne hinter ihrem Rücken nannten, war sich offensichtlich zu schade, den Dreck, den sie mit dem ewigen Rumhantieren und Umpflanzen und Wässern verursachte, selber weg zu wischen. Das blieb an ihnen hängen. „Madame“ gab stattdessen Anweisungen zur Führung des Haushaltes und zur Vorbereitung des Essens, und dann verzog sie sich in die Stube, um mit Monsieur de Commerson lange Gespräche über das Grünzeug zu führen. Es war unerträglich.
Schließlich munkelte man, dass es sicher nicht bei den Gesprächen bleiben würde. Der Gärtner verzog sein Gesicht, als man diese Vermutung einmal besprach und deutete an, dass diese Person, die er noch nicht einmal für besonders reizvoll halte, neben ihren Heilkräutern wahrscheinlich auch noch andere kenne, die sie dem Herrn zu bestimmten Zwecken verabreiche. Man wisse ja Bescheid über solche schamlosen Weiber.
Jeanne bemühte sich, über die feindliche Stimmung hinweg zu sehen, die Ablehnung, die sie spürte, nicht allzu nah an sich herankommen zu lassen. Aber eines Abends kam es zu einem offenen Konflikt. Man erwartete Commersons Schwager, François Beau, den Pfarrer der schönen romanischen Kirche St. Jean-Baptiste von Toulon, zum Abendessen. Als dieser bemerkte, dass Jeanne zusammen mit ihm und Commerson an einem Tisch sitzen sollte, nahm er Commerson beiseite und sagte ihm rund heraus, dass er das für völlig inakzeptabel halte, dass ihm überhaupt die offensichtlich enge Beziehung, die Commerson zu dieser Hausperson zu unterhalten scheine, ein Rätsel und darüber hinaus äußerst unangenehm sei.
Jeanne musste mit den anderen in der Küche essen, und man überließ es ihr auch, das Essen für die Herren in die Stube zu tragen.
„Hat der Herr Pfarrer dir gezeigt, wo dein Platz ist!“ sagten die Mädchen voller Genugtuung, und Jeanne biss die Zähne zusammen.
Die Situation wurde nicht einfacher, als sich im Frühsommer herausstellte, dass die unschickliche Vertrautheit, die der Pfarrer angeprangert hatte, tatsächlich über die Notwendigkeit häuslicher Verpflichtungen hinausgegangen war. Jeanne Baret war guter Hoffnung. Nicht nur das Hauspersonal vibrierte vor gemeiner Begeisterung, die gesamte Dorfgemeinschaft empörte sich. Man verlangte, dass der angesehene Arzt diese liederliche Person aus seinem Haushalt entließ, und François Beau forderte dies ebenfalls mit großem Nachdruck.
Nun erwies sich, dass Commerson nicht willens war, sich unter Druck setzen zu lassen, denn er hatte sehr wohl verstanden, dass seine finanzielle Unabhängigkeit ihm tatsächlich die Freiheit gab, die er sich genommen hatte und dass er auch weiterhin so zu leben beabsichtigte, wie es ihn gut dünkte. Er traf Vorkehrungen, die ihn nach außen hin vielleicht als lieblos erscheinen lassen mochten, die ihn aber schützen sollten und damit letztlich auch Jeanne Schutz boten. Er schickte Jeanne in die nächstgelegene Stadt, Digoin, etwa 30 km südlich von Toulon, um dort eine Schwangerschaftsbescheinigung ausstellen zu lassen. Laut einer königlichen Verordnung mussten alle unverheirateten Frauen, die ein Kind erwarteten, eine solche Bescheinigung ausfüllen, in der sie unter Zeugen den Vater des Kindes benennen konnten.
Am 22. August 1764 weigerte sich Jeanne Baret vor dem Notar von Digoin den Vaternamen des Bastards zu nennen. Dies tat sie vor zwei amtlich bestellten Zeugen. Damit konnte niemand Commerson für diese Schwangerschaft verantwortlich machen, auch nicht sein Schwager, François Beau, der ihm nur zu gern am Zeug geflickt hätte.
Jeanne war zum ersten Mal in ihrem Leben allein in einer Kutsche gereist, um diesen schwierigen und demütigenden Auftrag zu erfüllen. Zum ersten Mal auch war sie auf eine für Ihresgleichen unvorstellbar weite Reise gegangen. Sie hatte sich mehr als fünfzig, vielleicht sechzig Kilometer vom Ort ihrer Geburt entfernt. Keiner, den sie aus ihrem Dorf kannte, und auch kaum jemand aus ihrer neuen Heimat Toulon hätte das gewagt. Sie war von Philibert de Commerson auf diese Reise geschickt worden, und obwohl sie eine gewisse Aufgeregtheit verspürte, hatte sie doch Vertrauen in diesen Mann. Ohne dass sie es in diesem Augenblick wissen konnte, gab ihr die Fahrt einen kleinen Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.
Commerson hatte inzwischen seine Vorbereitungen getroffen. Er nahm Abschied von seinem Schwager und von seinem kleinen Sohn, den er zuversichtlich in der Obhut des Pfarrers ließ, wohl wissend, dass dieser sich seiner annehmen und ihn hüten würde wie seinen Augapfel, denn der Kleine war sozusagen das Faustpfand für das schwesterliche Erbe, das ihm eines Tages zustehen würde.
Es war ein frostiger Abschied. Zwar gab es nicht viel dagegen einzuwenden, dass Commerson seine wissenschaftliche Laufbahn als Botaniker in Paris verfolgen wollte, wo er auf eine bedeutendere Karriere hoffen konnte, als sie ihm im beschaulichen Toulon je beschieden sein könnte. Es war auch offensichtlich, dass ein zweijähriger Knabe dabei hinderlich sein würde, und der Junge war im Umfeld seines Paten und des elterlichen Erbes sicher bestens aufgehoben. Aber dass er diese Person, statt sie auf die Straße zu werfen, mit nach Paris nehmen würde, war mehr als der christliche Schwager ertragen wollte.
Als Jeanne aus Digoin zurückkam, brachen sie auf. Jeanne war 24 Jahre alt, Commerson 36, als sie die Kutsche bestiegen, die sie nach Paris bringen würde. So waren sie auf dem Weg, zuerst in die Welt einer großen Stadt und dann in die unermesslichen Weiten der gesamten Welt.
8.
Paris, Rue du Boulanger. Jeanne konnte es nicht fassen. Commerson zog in eine wunderbare Wohnung mit beinahe so vielen Zimmern wie in dem schönen Haus in Toulon. Es war eine unglaubliche Erleichterung nach dieser endlosen, beschwerlichen Fahrt. Mehr als einmal wäre Jeanne am liebsten umgekehrt oder an Ort und Stelle ausgestiegen, um diesem unerträglichen Gerüttel ein Ende zu bereiten. Auch hatte sie Sorge, dem Kind möge etwas zustoßen. Schlecht hatte sie sich gefühlt, elend, nicht nur körperlich. Da war diese Ungewissheit, auf welches Abenteuer sie sich eigentlich einließ. In Toulon hatte sie sich im Grunde sicher gefühlt, trotz der nicht gerade angenehmen Verhältnisse. So weit weg war das nicht von ihrem Zuhause, von La Comelle. Sie hätte immer zurückgehen können, zu ihren Eltern. Aber jetzt! Paris, die Hauptstadt von Frankreich! Der König selbst sollte dort leben oder doch in der Nähe, im Schloss von Versailles. Jeanne hatte keine Vorstellung davon, weder von der Stadt noch von dem Schloss oder auch vom König. Es machte ihr Angst. Wohin führte sie dieser Mann?
Commerson hatte sich allerdings während der zwei Tage dauernden Fahrt rührend um sie gekümmert. Hatte versucht, ihr die Angst zu nehmen und ihr versichert, wie schon viele Male vor der Abfahrt, dass in Paris alles besser würde, dass sie sich dort wohlfühlen würde, in einer schönen Wohnung, in einer freien Umgebung, unter Menschen, die sie akzeptieren, die nicht auf sie herab sehen würden. Wieder hatte sie sich gezwungen, ihm zu vertrauen. Und auch diesmal hatte er Recht behalten.
Sie brauchte nicht lange, um sich einzugewöhnen. Die neuen Lebensumstände waren überwältigend. Niemals hatte sie so vornehm gewohnt. Insgeheim wünschte sie sich, ihre Mutter könne sehen, wie weit sie es gebracht hatte, wie sehr sich ihr Leben seit dem Zusammentreffen mit Monsieur de Commerson verbessert hatte. Natürlich wusste sie auch, dass es manches gab, was ihre Mutter nicht gutheißen würde. Sicher würde sie Jeanne vorwerfen, sich gegen ihren Glauben gewendet, gegen alle guten Sitten verstoßen zu haben. Doch das hatte sie nicht. Es stimmte wohl, dass Commerson sie nicht geheiratet hatte. Aber er war ein freier Mann. Sie hatte sich nicht auf ein Verhältnis eingelassen, bei dem einer lebenden Ehefrau Unrecht getan wurde. Und sie liebte Philibert. War das denn ein Unrecht? Er respektierte sie auf eine Weise, wie ihr das niemals vorher geschehen war. Er sprach zu ihr wie zu Seinesgleichen. Er diskutierte seine Arbeit mit ihr. Er fragte sie sogar nach ihrer Meinung! Er holte ihren Rat ein, er sagte ihr deutlich mit Worten, dass er ihre Ansichten für klug hielt. Nein, es konnte nicht falsch sein, diesen Mann zu lieben. Sie lernte von ihm, jeden Tag. Über Pflanzen und Tiere natürlich, ihre gemeinsame Leidenschaft, aber auch über so viele andere Dinge, von denen sie nichts verstand. Und sie nahm auf, was er sie lehrte mit wachem Interesse und ihrer nie endenden Neugier.
Es gab ihr eine große Genugtuung, dass dies Geben nicht einseitig blieb, denn auch sie hatte Kenntnisse, die Commerson bisher verborgen geblieben waren. Voller Stolz hatte sie für ihn ein Heft angelegt, in dem sie aufgeschrieben hatte, was sie wusste. Er hatte diese Liste, diese „Tables des plantes médicamenteuses“ mit großem Entzücken angenommen und sorgfältig in seine ihm teuersten Unterlagen eingefügt. (Liste von Heilpflanzen. Das 32 Seiten starke Heft befindet sich unter dem Nachlass von Philibert de Commerson im Musée national d’histoire naturelle in Paris (Ridley, Ausgabe von 2011, S. 33 f. Dort auch die scharfsinnige Zuordnung der Liste an Jeanne Baret. Vgl. außerdem Abb., ibid., zwischen S. 180 und 181). Sie hatte dabei gegen einen Ehrenkodex verstoßen, denn immer war das Wissen über die Heilkräuter von all den weisen Frauen nur mündlich weitergegeben worden. Was aber auch daran liegen mochte, dachte Jeanne Baret voll geheimen Stolzes, dass kaum eine von diesen Frauen lesen und schreiben konnte. Jedenfalls hatte Monsieur de Commerson die Bedeutung ihres Geschenks sehr wohl verstanden und hielt es in hohen Ehren.
Nein, sie hätte es ihrer Mutter ins Gesicht sagen können. Sie empfand keine Scham, diesen Mann zu lieben, und sie fühlte keine Schande darüber, dass sein Kind in ihrem Leib heranwuchs.
Auch hatte sie ihren Glauben nicht verleugnet. Als die Rede auf Paris und das neue Leben gekommen war und Philibert ihr riet, mit allem anderen auch ihren Namen hinter sich zu lassen, hatte sie nach einiger Überlegung eingewilligt, als Jeanne de Bonnefoy – vom guten Glauben – mit ihm nach Paris zu gehen. Und das war ein deutliches Zeichen. Sie hatte dem Glauben ihrer Mutter nicht abgeschworen, und sie fühlte sich nicht schuldig vor ihrem Gott.
Und nun Paris, die Straßen voller Menschen, alles war neu und interessant, auch ein bisschen furchteinflößend. Aber sie hatte ein junges Mädchen, Berthe, und einen jungen Burschen, Henri, die ihr bei der Haushaltsführung halfen. Anders als in Toulon, wo sie im Grinsen der Männer und den hochnäsigen Blicken der Frauen im Hause von Monsieur de Commerson die ganze Verachtung für ihre Person zu spüren bekam, begegnete man ihr hier mit Freundlichkeit. Es machte ihr Spaß, mit Berthe durch die Straßen auf die Märkte zu gehen. Sie lernte von ihr, mit den Händlern zu feilschen, und als Kind des Landes konnte sie ihrerseits Berthe auf die Qualität oder Mängel der Ware hinweisen. Niemand schien Anstoß daran zu nehmen, dass sie nicht verheiratet und doch schwanger war und dass sie ganz offensichtlich mit dem vornehmen Herrn de Commerson zusammenlebte. Ihre anfängliche bange Zurückhaltung wich einer befreiten Selbstverständlichkeit. Und da Philibert seine Kontakte zu den bedeutenden Naturwissenschaftlern in Paris und allen voran mit dem Direktor des Jardin du Roi, Monsieur Jussieu, wieder aufgenommen hatte und glücklich seiner Leidenschaft, dem Botanisieren, nachgehen konnte, waren die ersten Monate in der neuen Welt von großer Freude und einem glücklichen Zusammensein erfüllt. Commerson nahm sie sogar mit, um ihr die Besonderheiten der Stadt zu zeigen, führte sie gar ins Theater. Jeanne fühlte sich wie im Paradies.
Und in der ganzen Zeit bemühte sie sich ständig darum, die Pflanzen, die Commerson mitbrachte, zu pflegen, manche zu trocknen und die immer weiterwachsende Anzahl in einem genauen System zu ordnen. Denn auch das hatte Commerson sie gelehrt, die Klassifizierung nach Linnaeus, die Einordnung nach Gattung und Art einer Pflanze und deren spezielle Besonderheiten. Die lateinischen Namen blieben ihr fremd, aber sie begriff sehr wohl und hatte es auch vor Commersons Anweisungen gewusst, dass Ähnlichkeiten in Art der Blüte, der Blätter, der Stängel und Wurzeln auf Verwandtschaften hinwiesen und auch auf Wirkungen von Pflanzen, wenn sich solche erkennen ließen, heilsame wie todbringende.
Dann kam der Winter, und der Geburtstermin rückte näher. Sie freute sich auf das Kind. Es war eine weitere Gemeinsamkeit, die sie mit Philibert verbinden würde. Sie hatte wohl zur Kenntnis genommen, dass er ihren Zustand weitgehend zu ignorieren schien. Er fragte nie, wie es ihr ging, aber Jeanne glaubte, dass dies aus Höflichkeit geschah oder weil so ein Zustand bei einer Frau ja nichts Besonderes war. Auch zu Hause machte niemand viel Aufhebens von einer schwangeren Frau. Lediglich die Frauen untereinander sprachen darüber. Aber die Männer ignorierten das meistens. Und hier war es eben genauso. Mit Berthe konnte sie darüber sprechen. Und Berthe war wirklich rührend und hilfsbereit, wenn Jeanne eine Arbeit zu schwer wurde, rücksichtsvoll wie eine jüngere Schwester irgendwie. Und selbst Henri, obwohl er selbstverständlich keinerlei Bemerkungen über ihren Zustand machte, ließ durch kleine Gesten wissen, dass er verstand, wie es ihr gerade ging.
Im Dezember 1764 kam der kleine Jean-Pierre Baret zur Welt. Die Geburt verlief problemlos, und Jeanne konnte nicht genug über dieses kleine Wunder in ihren Armen staunen. Zunächst war sie gänzlich absorbiert in der Pflege ihres Sohnes, und auch Berthe kümmerte sich voller Fürsorge um den Neuankömmling. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Jeanne merkte, dass sich die Stimmung im Haus veränderte.
Commerson war nicht begeistert. Die von Pflanzen überfüllte Wohnung eignete sich nicht für die Aufzucht eines Kindes. Nicht von ungefähr hatte Commerson den kleinen Archambaud in Toulon zurückgelassen. Es war nicht so, dass er grundsätzlich etwas gegen Kinder hatte, aber er konnte auch nicht wirklich viel mit ihnen anfangen. Jedenfalls nicht, so lange sie so klein waren, das hatte er zur Genüge mit Archambaud gesehen. Waren sie aber noch kleiner, wie jetzt der neugeborene Jean-Pierre, dann störten sie regelrecht. Sie brachten durch ihr durchdringendes Geschrei und die Notwendigkeit, ständig versorgt werden zu müssen, eine große Unruhe in Commersons Umfeld. Und sie lenkten Jeannes Aufmerksamkeit von den wichtigeren Dingen in seinem Leben ab. Commerson wurde nervös, ungeduldig, schließlich äußerst gereizt, und im Januar hielt er es nicht mehr aus. Er bat Jeanne, den Säugling weg zu geben. Sie war wie betäubt, konnte nicht glauben, dass er es ernst meinte. Und dann brachte sie ihr Kind in ein Pariser Findelhaus, wo man ihn einer Pflegemutter anvertraute.
Grundsätzlich waren Findelhäuser eine gute Einrichtung, hatten sie doch geholfen, die Unsitte abzustellen, bei der verzweifelte Mütter ihre Kinder einfach bei Wind und Wetter auf der Straße ablegten, wo sie vielfach erst gefunden wurden, wenn sie bereits gestorben waren. Vor allem im Winter ging das bei den tiefen Nachttemperaturen nur allzu schnell. Die Findelhäuser garantierten zunächst das Überleben der Unglücklichen, denn vielfach wurden sie von Frauen aufgenommen, denen eigene Kinder verwehrt blieben, oder solchen, die für ein geringes Entgelt sich um die Waisen kümmerten. Man ließ Jeanne wissen, dass sie das Kind jederzeit zurückholen könne. Man versuchte, sie zu trösten. Wenn sie im Augenblick keine Möglichkeit habe, sich um den Jungen zu kümmern – denn man begriff natürlich, dass es sich hier um eine unverheiratete Mutter handelte – so könnten sich doch ihre Verhältnisse eines Tages ändern. Das geschah manchmal. Und dann würde alles gut. Ja, versuchte Jeanne sich einzureden, es ist eben im Augenblick wirklich nicht einfach. All die Pflanzen in der Wohnung, die Philibert so wichtig waren. Sie war mit dem Kleinen ja kaum noch dazu gekommen, alles in Ordnung zu halten. Es würde sicher eines Tages alles anders werden. Sie unterdrückte ihre Traurigkeit. Viel lag ihr daran, Philibert nicht zu betrüben.
Wenig später fand sie in Commersons Unterlagen einen Brief von François Beau, in dem dieser den Schwager auf die Geburt des Bastards ansprach und anfragte, ob etwa eine neuerliche Hochzeit anstünde. Der Brief lag offen da. Commerson hatte sich, wie bei den vornehmen Leuten üblich, keinerlei Gedanken darüber gemacht, ob vielleicht ein Unbefugter seine Post lesen könne, denn die Dienerschaft konnte im Allgemeinen nicht lesen. Jeannes Blick war zufällig auf das Schreiben gefallen. Das Wort Bastard hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Also ließ der Schwager sie nicht aus den Augen, hatte womöglich einen Spitzel hier in Paris. Es traf sie wie ein Schlag. Paris gab ihr das Gefühl, durch einen unermesslichen Raum und ebensolche Zeit von ihrer Heimat entfernt zu sein. Sie hatte sich in ihrem neuen Leben weit weg von der kritischen Beurteilung durch ihre alte Welt geradezu unantastbar, unverwundbar gefühlt. Nun musste sie erkennen, dass sie dem allen nicht wirklich entfliehen konnte.
Philibert sprach nicht mit ihr über dieses Schreiben. Zu gern hätte sie seine Antwort gewusst. Wenn sie jetzt mit Berthe dasaß und Wäsche flickte, was früher ein munteres, geschwätziges Unterfangen war, blieb sie oft still und nachdenklich. Berthe respektierte ihre Zurückhaltung, die sie darauf zurückführte, dass Jeannes Herz voller Traurigkeit war, weil sie ihr Kind weggegeben hatte. Aber es war nicht allein die Trauer um den kleinen Jean-Pierre, die Jeanne umtrieb. Zum ersten Mal machte sie sich Gedanken um die Zukunft. Sie fühlte mehr als sie es wusste, dass Philibert sie nicht heiraten würde. Es gab andere Männer in seinem Umfeld, die ein ähnliches Leben führten, unverheiratet, und das hieß letztlich ohne Verantwortung zu übernehmen, aber doch die angenehme Gegenwart einer Frau genießend. Frauen, die sich darauf einließen, waren nicht von Stand, sondern wie sie, Jeanne, die nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen hatte. Und war das etwa nichts, eine schöne, große Wohnung mit vornehmen Möbeln, wie ihre Mutter sie niemals auch nur zu Gesicht bekommen hatte, ein Schrank voller Wäsche und Kleider. Niemals Hunger leiden. Ein Dach über dem Kopf, durch das die Kälte auch im Winter und bei Regen nicht durchsickerte. Aber geheiratet wurde keine von diesen Frauen. Nicht einmal jener berühmte Mann, von dem man so viel Aufhebens machte, den sie alle zu bewundern schienen, dieser Rousseau, hatte seine Maitresse geheiratet. Und dabei hatte sie ihm fünf Kinder geboren. Fünf. Und alle hatte sie weggegeben. Hatten die Männer kein Gefühl?
Die Zeiten besserten sich. Nachdem man den Stein des Anstoßes, den kleinen Jean-Pierre, außer Haus gebracht hatte, wurde Commerson wieder liebenswürdig und zugewandt. Jeanne schöpfte Hoffnung. Dann kam im Sommer die Nachricht vom Tode des Jungen, und Jeanne ließ sich für einen Augenblick gehen, weinte sich in der Küche bei ihren beiden Helfern aus. Dabei braute sich ein noch schlimmeres Unheil über ihrem Kopf zusammen. Denn zur selben Zeit, als sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhielt, wurde Commerson so schwer krank, dass Jeanne auch um sein Leben bangen musste. Das Fieber, die Schmerzen in der Brust, die unglaubliche Kurzatmigkeit ließen sie befürchten, er könne sich Tuberkulose eingefangen haben, was einem sicheren Todesurteil gleichgekommen wäre.
Jeanne war außer sich. Aufopferungsvoll pflegte sie Philibert, sorgte dafür, dass der Haushalt weiterlief, und kümmerte sich weiterhin um die Pflanzen, die ebenfalls versorgt werden mussten. Jetzt plötzlich bekamen die Ängste um ihre Zukunft noch eine ganz andere Dimension. Sollte Philibert wirklich sterben, stünde sie absolut mittellos da. Es war ihr bewusst, dass Commersons Schwager sie einfach aus dem Haus treiben konnte mit nichts als ihren Kleidern auf dem Leib. Da sie nicht verheiratet war, also lediglich als Haushälterin fungierte, gehörte ihr nichts. Und so, wie sie François Beau erlebt hatte, würde er genau das tun. Sie konnte nicht einmal mehr ihren Sohn ins Feld führen, der ja auch Commersons Fleisch und Blut war. Nicht nur war der arme Jean-Pierre verstorben, in der Schwangerschaftsbescheinigung von Digoin hatte sie ja beteuert, dass der Vater des Kindes unbekannt sei. Genau das hätte ihr François Beau mit Freuden unter die Nase gerieben.
Sie bekam Angst. Was würde aus ihr werden? Würde sie ins Haus ihrer Eltern zurückkehren müssen, um ihr Dasein als Kräuterfrau wieder aufzunehmen?
Schlimme Wochen folgten. Manchmal glaubte Jeanne, den Mut zu verlieren. Immer, wenn sie sich vor Augen hielt, dass ihr Sohn bereits tot war und Philibert, ihr einziger Halt, ihr Schutz, selber so hilflos krank danieder lag und möglicherweise ebenfalls sterben würde, wollte ihr Herz zerspringen vor Angst und Kummer.
Nach und nach besserte sich aber Philiberts Gesundheitszustand. Jeanne begann, aufzuatmen. Es sollte keineswegs die letzte Prüfung sein, die ihr auferlegt wurde.
9.
Schon seit einiger Zeit diskutierte man die Notwendigkeit einer Weltumseglung durch französische Schiffe. Engländer, Spanier, Holländer waren bereits erfolgreich durch die Weltmeere gefahren und hatten sich verschiedentlich Kolonien zu eigen gemacht, während Frankreich bisher mehr oder weniger leer ausging, mit Ausnahme einiger eher unbedeutender Inseln im Indischen Ozean, auf denen man französisch verwaltete Standorte eingerichtet hatte. Man erhoffte sich durch ein solches Unternehmen Landgewinn, Bodenschätze, Gewürzmonopole, und vor allem hatte noch niemand den südlichen Kontinent entdeckt, den man auf der Südhalbkugel vermutete, die terra australis incognita. Welcher Ruhm, wenn dies Frankreich gelänge!
Im Laufe der zweiten Hälfte des Jahres 1765 nahm diese Idee langsam Gestalt an. Es schien erforderlich, dass ein Naturkundler die Expedition begleitete, der die unbekannten Tiere, denen man begegnen würde und vor allem die Pflanzen, die man finden würde, bestimmen und auf ihren möglichen kommerziellen Nutzen untersuchen könnte. Commerson schien der geeignete Mann. Sein offensichtliches Interesse wurde unterstützt von ihm wohl gesonnenen Personen: Jussieu, dem Direktor des Jardin du Roi und, viel bedeutender, von Königin Louisa Ulrika von Schweden und von Linnaeus persönlich.
Commerson eilte nach Hause, um Jeanne freudestrahlend und voller Begeisterung zu verkünden, dass er als Mitglied einer königlichen Expedition um die Welt segeln und für zwei bis drei Jahre Paris verlassen werde. Jeanne erstarrte. Sie blieb ganz ruhig, aber sie wurde weiß wie die Wand, und Commerson, der nie daran gedacht hatte, dass Jeanne Baret eigene Wünsche und Vorstellungen von ihrem Leben haben könnte, ja, der der festen Überzeugung war, dass sie selbstverständlich alles, was mit ihm zu tun hatte, gut heißen würde, stand einen Augenblick irritiert und ratlos.
„Das ist eine große Ehre für mich, Jeanne, begreifst du das nicht?“ sagte er schließlich.
Da aber tat sie etwas, was sie niemals getan hatte und womit er nicht rechnen konnte. Sie heulte auf. Sie schrie ihn an, außer sich, wie er es nicht für möglich gehalten hatte: „Eine Ehre für dich, Philibert? Und was wird aus mir? Ich habe alles für dich aufgegeben, ich bin dir in diese fremde Stadt gefolgt und habe meine Eltern vergessen. Ich habe dir einen Sohn geboren und habe ihn weggegeben, als du es wolltest. Jetzt ist er tot. Ich habe nichts und niemanden als dich, Philibert! Wo soll ich hin, wenn du nicht mehr da bist, wovon soll ich leben? Eine Ehre für dich, sagst du? Und was wird aus mir!!??“
Er war erschüttert. Es war doch alles so gut gelaufen. Er hatte nicht bemerkt, dass es ihr etwa schwergefallen war, ihre Eltern zu verlassen und in sein Haus in Toulon zu ziehen. Sie hatte sich in Paris gut eingelebt, war zufrieden mit den Lebensumständen, froh und glücklich damit, ihm bei seiner Arbeit helfen zu können. Das Kind – nun ja, er verstand schon, dass eine Mutter das vielleicht anders sah, als er es gesehen hatte. Dass es dann gestorben war, war ein Unglück, für das niemand etwas konnte, er, Commerson, am allerwenigsten.
Immerhin sah er ein, dass er etwas für sie tun musste, für die Zeit seines Weggangs und tatsächlich auch für den Fall seines unerwarteten Todes, der auf einer solchen Reise nicht gänzlich unwahrscheinlich war. Er trat auf Jeanne zu, die sich völlig aufgelöst die Haare gerauft hatte und nun weinend inmitten der Pflanzen stand, um die sie sich wie um ihre Kinder gekümmert hatte und ja auch während seiner Abwesenheit weiterhin kümmern sollte. Er nahm sie in die Arme, streichelte beruhigend ihre Haare, gab beschwichtigende Laute von sich.
„Still, Jeanne, still! So beruhige dich doch. Ich kümmere mich um dich, es soll dir an nichts fehlen, glaub mir. Ich brauche dich und ich liebe dich. Du wirst sehen, es wird alles gut.“
Und dann erklärte er ihr, dass sie während seiner Abwesenheit in der Wohnung bleiben sollte, dass er ihr genug Geld zur Verfügung stellen würde, dass sie sich bis zu seiner Rückkehr um alles kümmern müsse, vor allem natürlich um die Pflanzen. Und dass er ein Testament zu ihren Gunsten aufsetzen würde, um sie für den Fall seines Ablebens nicht völlig mittellos zu lassen. Und das geschah.
In diesem Testament hinterließ er nicht nur seinen Körper der Wissenschaft und regelte seine sonstigen Angelegenheiten, sondern es gab einen Passus, der Jeanne betraf: „Jeanne Baret, meine Haushälterin, auch bekannt als Jeanne de Bonnefoy“, so hieß es da, und da tauchte der Name auf, den sie offensichtlich in Paris angenommen hatte. Er bestimmte, dass sie 600 Pfund als Summe ausbezahlt bekommen sollte. Dazu den jährlichen Lohn von 100 Pfund, zu zahlen seit dem 6. September 1764. Er erklärte, dass alle Wäsche und alle Frauenkleider ihr Eigentum seien und dass sie alle Möbel erhalten solle, den gesamten Hausrat. Mit Ausnahme seiner Bücher, seiner Herbarien und persönlichen Sachen, die er seinem Schwager hinterließ. Und dass Jeanne das Wohnrecht in der Rue du Boulanger für ein Jahr nach seinem Tod behalten solle, um ihr genügend Zeit zu geben, alle Objekte seiner naturgeschichtlichen Sammlung an die königlichen Sammlungen zu vermitteln.
Das beruhigte Jeanne, aber es machte sie nicht glücklich. Die Aussicht ohne den Schutz des Mannes in dieser Stadt bleiben zu müssen, die Furcht, sie möge ihn für immer verlieren, bedrückten sie außerordentlich. Aber sie beklagte sich nicht mehr. Commerson verfolgte leichten Herzens seine Vorbereitungen auf das große Abenteuer und war, was Jeanne betraf, ganz mit sich im Reinen.
So ging einige Zeit dahin, bis Commerson sich darüber im Klaren wurde, dass er nicht ohne Diener reisen konnte. Und dass dieser Diener möglichst auch etwas von seiner botanischen Arbeit verstehen müsste. Er wandte sich an Jussieu und weitere Herren seines Bekanntenkreises, ob sich nicht ein geeigneter junger Mann finden ließe. Er hatte sich nie sonderlich um die wissenschaftlichen Assistenten, die Jussieu umschwärmten, interessiert. Und nun, bei näherer Inspektion, sah er sich in seinem Desinteresse bestätigt. Da schien es niemanden zu geben, der im Geringsten seine Kenntnisse teilte, oder, was das betraf, die der Jeanne Baret. Auch waren diese Herren zwar an ihrer Karriere interessiert, aber weniger, so wollte es scheinen, an der Sache selbst. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass keiner dieser Herren bereit und in der Lage gewesen wäre, Commersons Sachen zu ordnen, seine Kleidung aufzufrischen oder ihm sonst zu Diensten zu sein. Er vermutete stark, dass diese jungen Herren selber auf die Hilfe eines Dieners angewiesen wären.
Monate vergingen, und nachdem Commerson anfänglich noch die Sache auf die leichte Schulter genommen hatte, wurde die Frage der Person, die ihn begleiten sollte, im Sommer 1766 immer drängender. So kam es, dass er eines schönen Sommerabends, als er eben dabei war, mit Jeanne die Untersuchung einer neuen Pflanze durchzuführen, mit plötzlicher Sicherheit wusste, dass er niemanden finden würde. Beziehungsweise, dass es nur eine mögliche Person gab, die alle seine Anforderungen erfüllen könnte.
Jeanne merkte, dass sich Philiberts Aufmerksamkeit von der Pflanze ab und ihr zugewandt hatte.
„Warum schaust du mich so an?“ fragte sie erschrocken, schon befürchtend, er möge mit einer neuerlichen Hiobsbotschaft daherkommen. Er antwortete nicht sofort, stand auf und ging im Zimmer umher. Sie blickte ihm voller Unruhe nach.
„Jeanne“, sagte er dann nach einer Weile, „ich werde vielleicht doch nicht fahren können.“ Ihre Augen weiteten sich. „Es sei denn …“ Der Satz blieb unvollendet
„Es sei denn?“
„Es sei denn, du begleitest mich.“
Nun erschrak sie zutiefst. Einerseits wollte ihr Herz vor Freude zerspringen über das, was er jetzt vorbrachte, weil er sie offensichtlich doch so sehr schätzte, wie er immer behauptete, aber in den letzten Monaten seit Beginn der Reiseplanung kaum noch gezeigt hatte. Andererseits durchfuhr sie eine große Angst, denn eine solche Reise anzutreten hätte sie niemals in Erwägung gezogen. Viele Male schon, seit Philibert zuerst davon gesprochen hatte, dass er die Welt umsegeln würde, hatte sie sich die Strapazen ausgemalt, denen er ausgesetzt sein würde, hatte versucht, sich die vielen Gefahren vorzustellen, die fremden Menschen, denen er begegnen würde und von denen ja niemand wusste, ob sie nicht vielleicht feindlich gesinnt waren. Dazu die Unwägbarkeiten des Meeres, des Wetters, gewaltige Stürme mochten die Schiffe bedrohen. Oder sie trafen auf unbekannte wilde Tiere, auf Piraten – ja, was wusste sie denn, was nicht alles passieren konnte. Und jetzt stand er vor ihr und sagte ihr allen Ernstes, dass er ihre Begleitung wünschte. Sie blieb stumm, wartete, was noch kommen würde.
„Es gibt allerdings eine Schwierigkeit, über die ich noch nachdenken muss.“ Immer noch sagte sie nichts. Insgeheim ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass er wohl kaum seine Haushälterin mitnehmen konnte und dass er sie vielleicht doch würde heiraten müssen. Sie wartete ab.
„Du musst wissen, dass Frauen an Bord seiner französischen Majestät nicht erlaubt sind. Unter keinen Umständen und ohne Ausnahme. Darin sehe ich eben eine Schwierigkeit.“
Jeanne wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Wollte er sich über sie lustig machen? Hatte er sie noch nicht genug gequält, unglücklich gemacht, weil sie sich noch kaum an den Gedanken gewöhnen konnte, dass sie sich würden trennen müssen. Wollte er sie vielleicht auf seine merkwürdige Art im Gegenteil trösten, indem er ihr sagte, dass er sie gern bei sich hielte, aber die Umstände es eben nicht erlaubten? Philibert war kein einfühlsamer Mensch. Er konnte sehr liebenswürdig und charmant sein. Aber er verstand andere Menschen nicht wirklich. Wenn man ihn direkt auf seine mangelnde Empathie hinwies, konnte er einsichtig sein. Sie hatte ja nur ein einziges Mal von ihm Verständnis gefordert, und er hatte daraufhin das Testament aufgesetzt. Es war gut möglich, dass er nun auf seine verquere Art ihr seine Zuneigung zeigte. Auch ihm mochte die baldige Trennung nicht leichtfallen.
„Vielleicht gäbe es doch eine Möglichkeit“, hörte sie jetzt wieder seine Stimme wie von weitem. „Allerdings kann ich dir das kaum zumuten. Ich weiß auch nicht, ob eine solche Maskerade, eine solche Täuschung überhaupt gelingen kann. Immerhin dauert die Reise wenigstens zwei Jahre. Andererseits …“
Jetzt endlich fasste sich Jeanne ein Herz, blickte Commerson direkt in die Augen und sagte: „Was genau willst du mir vorschlagen, Philibert?“
Sie war aufgestanden und trat dicht vor ihn hin. Sie las in seinen Augen, was sein Mund nicht auszusprechen wagte. Es war ungeheuerlich. Und gleichzeitig dachte sie: das will er wagen? Das soll ich wagen? Ein Sturm brauste in ihrem Kopf, eine wilde, leidenschaftliche, unerhörte Möglichkeit, ihr Schicksal auf eine Weise in die Hand zu nehmen, wie das niemals jemand vor ihr getan hatte. Sie fühlte eine Stärke in sich wachsen, einen Mut, eine Kraft, einen unbeugsamen Willen. Sie, Jeanne de Bonnefoy, würde mit Philibert de Commerson, ihrem Herrn, ihrem Liebsten, einmal um die Welt segeln. Gott würde sie beschützen.
10.
Das alles wussten Bougainville und La Giraudais, als sie sich im Frühjahr des Jahres 1767 in Rio de Janeiro trafen, nicht.
„Es hat von allem Anfang an Probleme wegen dieses Burschen gegeben“, erklärte Giraudais. „Dabei ist er wirklich sehr angenehm. Er ist ruhig und zurückhaltend, fleißig, redet nicht viel. Und Monsieur de Commerson scheint sich in allem sehr auf den Jungen zu verlassen. Man bemerkt eine große Vertrautheit zwischen beiden, bei allem nötigen Respekt, an dem es der Bursche seinem Herrn gegenüber niemals fehlen lässt. Ich frage mich allerdings, da er ganz offensichtlich ein einfacher Junge ist, wo er all die Kenntnisse erworben haben kann, die ihn zu einer so großen Hilfe für Monsieur de Commerson machen. Ich muss gestehen, dass ich mir eigentlich keinen Reim auf alles machen kann.“
„Aber wieso, lieber Giraudais“, fragte Bougainville leicht irritiert, „konnte es zu Problemen kommen, wenn sie den jungen Mann doch so positiv zu beurteilen scheinen?“
Das war eine lange Geschichte.
Die Kapitänskabine war geräumig, wenngleich für zwei Personen doch auf Dauer auch wieder beengend, vor allem, wenn man Commersons Gepäck in Betracht zog, all die Aufbewahrungskisten für seine Pflanzen, die den Raum weiter einschränkten. Wichtig waren zwei Dinge: der Kapitän hatte eine eigene Nische, in der er seine Notdurft verrichten konnte, und es gab in einem Gang direkt außerhalb der Kabine einen gemeinsamen Waschtisch für alle Offiziere, die in angrenzenden Kajüten logierten. Die Mannschaft dagegen musste sich auf dem Achterdeck in gewisse Löcher erleichtern. Dort war man ungeschützt allen Blicken ausgesetzt. Man gewöhnte sich daran. Es gab kaum einen Mann, dem das noch etwas ausgemacht hätte. Für Jeanne aber kam das selbstverständlich gar nicht in Frage. Sie schauderte bei dem Gedanken. Sie versuchte, so unsichtbar wie möglich zu bleiben, möglichst überhaupt nicht bemerkt zu werden.
Zunächst konnte das auch gelingen. In den ersten beiden Wochen nach Auslaufen des Schiffes wurden beide, Commerson und Jeanne, seekrank. Commerson konnte sich einigermaßen helfen, weil er an Deck und an die frische Luft gehen konnte. Jeanne hatte diese Möglichkeit dagegen nur sehr eingeschränkt. Sie durfte sich lediglich auf dem Vorderschiff kurz aufhalten. Während die Matrosen ohnehin ihre Arbeit an der frischen Luft verrichteten, war es im Allgemeinen nicht üblich, dass die Diener der Offiziere über Deck spazierten. Die zwei Wochen waren unerträglich für Jeanne. Mehr oder weniger gefangen in der geschlossenen Kabine kämpfte sie gegen die ständige Übelkeit an. Weder das Liegen in der schwankenden Hängematte, noch als sie versuchte, in einer Decke auf dem Boden einen Halt zu finden, brachten ihr Erleichterung. Es war die erste Prüfung, die Jeanne verdeutlichte, dass sie sich auf ein Abenteuer eingelassen hatte, von dessen Ausmaß sie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. All die Zuversicht, die sie in dem Augenblick spürte, als der ungeheuerliche Plan Gestalt angenommen hatte, war schon nach kürzester Zeit aus ihr gewichen. Weinend saß sie auf dem Boden ihrer Kajüte und wusste doch, dass es kein Entrinnen gab. Land würde sie erst in Rio de Janeiro wiedersehen und die Überquerung dieses riesigen Meeres, das hatte sie aus Gesprächen, denen sie gelauscht hatte, mitbekommen, würde Monate dauern. Sie war auf sich allein gestellt. Philibert, der ohnehin keinen Belastungen gewachsen war, hatte mit sich selber zu tun. Sie hatte geglaubt, in jenem unerhörten Augenblick, als sie bereit war, mit ihm zu gehen, dass sie unzertrennlich sein würden, durch ihr Geheimnis zusammengeschmiedet. Hier wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie keine Hilfe erwarten durfte, von niemandem, auch nicht von Commerson. Aber klein beigeben wollte sie nicht.
Es war erst der Beginn ihrer Prüfungen. Sie bekam ihre Periode. Warum hatte sie bei allem nicht vorher daran gedacht, dass dies ein großes Problem darstellen würde. Sie musste äußerst vorsichtig sein, darauf bedacht, dass die verschmutzten Tücher, die Jeanne bei dieser Gelegenheit brauchte, um sich zu schützen, sie nicht entlarvten. Da wurde nun vollends deutlich, dass ihre ganze Komödie ohne den unerhörten Glücksfall, dass der Kapitän Commerson seine Kajüte überlassen hatte, schon nach kürzester Zeit aufgefallen wäre. Sie gewöhnte sich an, so wenig wie möglich außerhalb der Kajüte in Erscheinung zu treten. Niemand sollte etwa zu Überlegungen gereizt werden, warum sie an bestimmten Tagen ganz und gar nicht zu sehen war.
Trotzdem fiel natürlich nach und nach auf, dass der kleine Bursche dieses etwas seltsamen Botanikers – aber Wissenschaftler schienen den Matrosen allgemein nicht ganz von dieser Welt –, dass also dieser Junge sich ebenfalls ungewöhnlich verhielt. Niemand sah ihn je an den besagten Löchern auf dem Achterdeck. Er hielt sich überhaupt abseits, suchte nicht die Nähe, wenn schon nicht der kräftigen und sicher etwas grobschlächtigen Matrosen, so doch auch nicht die der Diener der anderen Offiziere. Als die ersten Bemerkungen darüber fielen, war es der Schiffsarzt, Vivès, der Öl ins Feuer goss. War es zunächst nur der gewisse Neid der anderen, weil ausgerechnet dieses Bürschchen eine solche Vorzugs- und Sonderstellung genießen durfte und in der Kabine seines Herrn eine für ein Schiff von der Größe der Étoile und der Anzahl ihrer Bewohner unerhörte Privatheit erlebte, brachte Vivès noch einen anderen Aspekt ins Spiel. Er nannte diesen Jean „das kleine Fräulein“ und behauptete, dieser Mensch versuche sehr ungeschickt sein wahres Geschlecht zu verbergen. Da einmal eine solche Ungehörigkeit ausgesprochen war, wurde auch mit einer anderen Vermutung nicht mehr hinter dem Berg gehalten. Schließlich musste der Kapitän Kenntnis von solchen Gerüchten bekommen. Sowohl die Vermutung, Commerson habe gegen die ausdrückliche Anordnung des Königs von Frankreich verstoßen und eine Frau mit an Bord des Schiffes gebracht, als auch die noch viel schlimmere, weil geradezu verbrecherische Variante, er unterhalte eine Beziehung zu seinem Lustknaben, waren nicht zu akzeptieren.
Giraudais sah sich zum Handeln gezwungen. Und da er spürte, dass die perfiden Verleumdungen lediglich von seinem Schiffsarzt ausgingen, während die Matrosen eher erbost waren über die ihrer Meinung nach ungerechte Bevorzugung des Jungen, ordnete er an, dass der Diener des Monsieur de Commerson wie die Diener aller anderen Herren Offiziere auch, seine Hängematte des nachts unter der Mannschaft aufhängen sollte. Wenn Jeanne gehofft hatte, dass Commerson dem Kapitän widersprechen würde und ihren Aufenthalt in seiner Kajüte durchsetzen könnte, so sah sie sich enttäuscht. Die Worte des Kapitäns auf seinem Schiff waren ein Befehl, dem sich absolut niemand widersetzen durfte.
Jeanne war außer sich. Sie wollte vor Angst vergehen, weil ihr sehr bewusst war, dass man sie nicht in Ruhe würde schlafen lassen, dass man um jeden Preis herauszufinden versuchen würde, wer sie wirklich war. Commerson hatte in weiser Voraussicht eine Pistole mitgenommen. Freunde hatten ihm dazu geraten, sich auf solch einer gefährlichen Reise nicht allein auf den Schutz des Kapitäns zu verlassen, sondern auf alle Fälle selber vorzusorgen. Er versuchte, Jeanne zu beruhigen. Er lud die Pistole, gab ihr kurze Anweisungen, wie sie zu handhaben sei, küsste sie kurz auf die Stirn und schickte sie mit allen guten Wünschen in die Ungewissheit der kommenden Ereignisse.
Jeanne musste sich einen Platz zum Schlafen suchen. Die Matrosen, die Tag und Nacht das Schiff beaufsichtigen mussten, hatten keine festen Schlafplätze. Wer Wache hatte, blieb an Deck, die anderen suchten sich irgendwo eine Ecke, wo sie bis zur Wachablösung schlafen konnten. Schweren Herzens musste sich Jeanne für einen Platz entscheiden. Überall hingen die Männer in ihren Matten, nirgendwo gab es auch nur einen einzigen privaten Flecken. Als sie endlich in ihrem schwankenden Bett lag, konnte sie vor Anspannung kein Auge zu tun. Die Krise ließ nicht lange auf sich warten. Lautlos hatten sich ein paar Kerle aus ihren Matten gelöst. Es war zunächst stockfinster, aber Jeanne spürte die Bewegung, die sich ihr näherte, mit allen Fasern ihres Körpers. Dann hielt jemand eine Lampe hoch. Als der erste an ihre Matte rührte, richtete sie sich mit einem Ruck auf und zielte mit der Pistole auf die Männer, wobei sie die Pistole mit beiden Händen hielt. „Weg!“ schrie sie laut und in Agonie: „Weg, oder ich schieße!“ Sie gab sich nicht einmal die Mühe, ihre Stimme tief zu halten, wie sonst, wenn sie wenige Male eine Frage stellte oder eine Antwort geben musste. Erschrocken wichen die Männer zurück. Es war klar, dass dieser Bursche in seiner Todesangst tun würde, was er da sagte. Und das wollte nun doch niemand riskieren. Sie zogen sich zurück. Jeanne hörte sie noch einige Zeit leise beratschlagen. Dann trat Ruhe ein. Dennoch war an Schlaf nicht zu denken. Völlig gerädert kehrte sie am Morgen in Commersons Kajüte zurück. Es schien klar, dass sie keine weitere solche Nacht durchstehen würde.
Commersons Wunde am Bein machte ihm gerade in diesem Augenblick solche Schwierigkeiten, dass er den Kapitän bat, den Burschen, von dessen stündlicher Pflege er abhängig war, doch wieder bei sich schlafen zu lassen. Giraudais willigte zunächst ein, war sich aber im Klaren darüber, dass diese Lösung von der Mannschaft auf Dauer nicht akzeptiert würde. Nicht zuletzt wegen der unermüdlichen Stänkerei von Vivès, dem nicht so sehr der Diener als der Herr verdächtig und einfach unerträglich war, würde es keine Ruhe geben. Vivès neidete Commerson seine Stellung als vom König beauftragter Forscher, dem der Kapitän ja auch tatsächlich freundliche Schmeicheleien angedeihen ließ, als sei er wer weiß wie wichtig. Während er, Vivès, als Arzt die ganze unerfreuliche Arbeit an Bord verrichten musste. Nicht dass er auf Commersons Hilfe gehofft hätte. Vivès war sicher, dass dieser Vornehmtuer vielleicht die Wehwehchen feiner Pariser Damen kurieren konnte, dass er vor der blutigen und wenig sauberen Arbeit, die Vivès mit den Männern hier hatte, sicher angewidert zurückschrecken würde.
Vivès gab keine Ruhe. Er lauerte Jeanne auf, stellte sich ihr eines Tages in den Weg.
„Dein Herr, dieser Commerson, dieser Modearzt“, sagte er provozierend, „der hat sich bequemerweise seine Krankenschwester gleich mitgebracht. Das nenne ich einmal weitsichtig! Und kannst du ihm bei all seinen Wehwehchen helfen, ja? Tust du das?!“
„Warum so spröde, meine Kleine?! Bist du das Liebchen von dem einen Doktor, kannst du doch auch zu dem anderen ein bisschen netter sein.“ Dabei kam er gefährlich nahe an sie heran. Es hatte sogar den Anschein, als wolle er sie anfassen. Jeanne wich entsetzt zurück. In diesem Augenblick rief Pierre, der die Szene von weitem beobachtet hatte, mit lauter Stimme: „Jean! Dein Herr fragt nach dir! Du sollst dich beeilen!“
Blitzartig schoss Jeanne an Vivès vorbei, der, irritiert durch die Störung, nach dem Rufer geblickt hatte, und brachte sich in Sicherheit.
Bei späterer Gelegenheit sagte Pierre zu ihr: „Nimm dich vor dem in Acht, Jean, der ist bösartig. Niemand kann ihn leiden, aber er ist für alle wichtig und eigentlich kein schlechter Arzt. Aber, bleib weg von ihm so gut du kannst.“
Das hätte er ihr gar nicht zu sagen brauchen. Sobald sie Vivès auch nur von weitem sah, versuchte sie, sich unsichtbar zu machen.
Die Unruhe unter den Matrosen blieb. Nach einer Weile entschloss sich Giraudais, sich diesen Jean Baret einmal persönlich vorzunehmen. Er beorderte ihn in seine Kajüte, und konfrontierte ihn direkt mit den verschiedenen Vermutungen, seine Person betreffend. Jeanne war lange gewarnt und darauf vorbereitet. Jean Baret eröffnete Giraudais, er verstünde, warum man ihn für weibisch halte. Ihm sei etwas widerfahren, über das man nicht leicht sprechen könne und das für seinen misslichen Zustand verantwortlich sei. Man habe ihn entmannt.
Giraudais zog hörbar die Luft ein. Einen Moment musste er diese Nachricht sacken lassen. Dann fragte er, ob Jean darüber sprechen wolle. Jean senkte den Kopf und sagte, nein, das wolle er nicht, das könne er nicht, man möge ihm verzeihen. Sie standen noch eine Weile ohne etwas zu sagen. Jeanne hielt weiterhin den Kopf gesenkt. Giraudais rang nach Fassung, nach der richtigen Reaktion, fragte sich wohl auch einen Moment, ob er das nun glauben solle. Er hätte dem Menschen befehlen können, sich nackt vor ihm auszuziehen, um Gewissheit zu bekommen. Davor scheute er entschieden zurück. Er kam zu der Überzeugung, dass, was immer nun die Wahrheit hinter diesem merkwürdigen Jungen war, diese Wendung der Dinge seine Männer beruhigen müsse. So befahl er, dass der Diener von Monsieur de Commerson weiterhin ungehindert in dessen Kajüte schlafen könne. Die Nachricht von dem Schicksal des Burschen jagte den Matrosen Angst ein, auch Mitgefühl, und so ließen sie ihn fortan in Ruhe.
11.
Lange, eintönige Tage auf See lagen vor ihnen. Dann näherte sich die Étoile dem Äquator. Weder Commerson noch selbstverständlich Jeanne hatten die geringste Ahnung, was das mit sich bringen sollte. Giraudais sah es als seine Pflicht an, sie rechtzeitig darüber aufzuklären. Wer zum ersten Mal auf einem Schiff von der Nord- zur Südhalbkugel wechselte, wer also den Äquator zum ersten Mal überquerte, der musste sich einer „Taufe“ unterziehen.
Offiziere – wie auch Commerson als Wissenschaftler im Rang eines Offiziers – mussten sich darauf gefasst machen, von der Mannschaft reichlich mit Wasser übergossen zu werden. Diejenigen, die die Prozedur schon einmal über sich hatten ergehen lassen müssen, rieten den Neulingen, und außer Commerson waren dies nur zwei weitere von den insgesamt acht Offizieren, auf jeden Fall gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Es war den Herren erlaubt, sich ihrer Uniformjacke vorher zu entledigen. Dies geschah aus Ehrerbietung vor dem Rangabzeichen auf diesen Jacken. Man wollte nicht despektierlich sein. Für Commerson hieß das, ebenfalls lediglich mit einer Hose und einem Hemd bekleidet anzutreten. Es gab außerdem den diskreten Hinweis darauf, dass man sich die Mannschaft durch die Spende einer Extraportion Rum gewogen machen könne, so dass man zuverlässig nur mit Wasser und nicht etwa mit einer mit Urin und Fäkalien durchmischten Flüssigkeit überschüttet wurde. Hinterher sollten die Herren ihre Freude an dem Spektakel durch gegenseitiges Überschütten mit Wasser zum Ausdruck bringen. Es sei außerordentlich wichtig, dass man der Mannschaft den Spaß an diesem ganzen Unternehmen nicht verderbe, so wild und grob und letztlich barbarisch das auch sei.
Schon war man Monate auf hoher See, das Leben war anstrengend und eintönig, und die Unterbrechung von der Routine wurde mit großem Ernst vorbereitet. Der Meeresgott Neptun würde auftreten mit Männern seines Gefolges, wilden Gesellen, rußgeschwärzt, mit Federn der Vögel, die man verspeist hatte, geschmückt oder besser verunstaltet. Während der gesamten Zeremonie waren die sonstigen Verhaltensregeln des guten Geschmacks, der Rücksichtnahme und strengen Gesetze an Bord eines Schiffes außer Kraft gesetzt. Der Kapitän, der allerdings als erfahrener Seemann ohnehin nicht mehr getauft wurde, blieb auch als Respektsperson gänzlich im Hintergrund.
Als Commerson Jeanne lachend berichtete, was man ihm darüber erzählt hatte, bekam sie einen neuerlichen Schrecken und bat ihn, sich weiter zu erkundigen, was denn mit den einfachen Männern geschähe, jenen die nicht das Glück hatten, sich als Offiziere von größerem Schaden frei zu kaufen und zu denen sie dann ja wohl gehöre. Commerson zeigte sich betroffen. Er hatte weitgehend vergessen, dass sein Diener anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen war, und er hätte sich unter anderen Umständen auch jetzt keine Gedanken darüber gemacht. Aber Jeanne zwang ihn dazu, die Gegebenheiten mit ihren Augen zu sehen, und er konnte nicht umhin, das Ausmaß der kommenden Schwierigkeiten zu erkennen. Daran ändern konnte er freilich nichts. So versuchte er, Jeanne zu beschwichtigen, was allerdings keinerlei Wirkung zeigte. Sie empfand eine solche Panik, dass Commerson fürchtete, sie würde sich in ihrer Verzweiflung über Bord stürzen.
Die übrigen Männer wussten, was ihnen blühte. Denn man würde sie tatsächlich über Bord werfen, wo sie allerdings von einer Konstruktion aufgefangen würden, einem Segeltuch, das man an allen vier Enden mit einem Seil am Schiff befestigt hatte. So konnte man die Männer ins Wasser tauchen, ohne dass sie untergingen oder von hungrigen Haien gefressen wurden, die nur darauf warteten, dass jemand über Bord ging. Deswegen waren die zu taufenden Novizen nackt. Oder sie erschienen, wenn sie es vorzogen eine Hose anzubehalten, auf jeden Fall mit nacktem Oberkörper. Jeanne band sich jeden Morgen mit festen Leinenstreifen ihren Busen ab, so dass ihr dieser nicht zum verräterischen Verhängnis wurde. Ein Auftreten nackt oder mit nacktem Oberkörper war einfach ausgeschlossen. Da sie sich keinesfalls der Angelegenheit entziehen konnte, ließ sie sich als einziger Täufling mit allen Kleidern am Leib über Bord werfen. Es war aber nicht damit getan, dass man sie ins Wasser tauchte. Diejenigen, die sozusagen im Namen Neptuns die ausübende Gewalt innehatten, tauchten sie immer wieder unter, versuchten darüber hinaus, sie anzugreifen und ihren Körper zu fühlen. Außerdem erfolgten von oben weitere Wassergüsse, aber dieses Mal versehen mit all jenem Unrat, den man den Offizieren erspart hatte. Jeanne versuchte verzweifelt, sich gegen die grabschenden Hände zu wehren. Sie verschluckte sich am Meerwasser, in das sie getaucht wurde, an der ekelhaften Brühe von oben. Sie hustete und spuckte das Wasser aus und strampelte gegen die sie ergreifenden Männer und glaubte ohnmächtig zu werden oder schließlich doch zu ertrinken.
Als man sie endlich frei gab, fühlte sie sich halb tot. Pierre und Emile, die beiden Matrosen, die sie zuerst angesprochen hatten, als sie in Rochefort das Schiff betrat, und zu denen sie seither einiges Vertrauen geschöpft hatte, und die sie schon mehrfach vor den rüpelhaften Angriffen der anderen Matrosen großmütig beschützt hatten, halfen ihr auch diesmal an Bord. Pierre klopfte ihr auf den Rücken, damit sie die ekelhafte Flüssigkeit, die sie geschluckt hatte, ausspucken konnte und beide geleiteten sie zur Kajüte, damit sie nicht noch weiter behelligt wurde. Draußen ging das wilde Toben, das unmenschlich entfesselte Gebrüll, weiter.
In der Kajüte lag Commerson leicht stöhnend in seiner Hängematte. Er hatte sich seines nassen Hemdes entledigt, das zum Trocknen aufgehängt war. Die kaum nasse Hose schien schon wieder getrocknet. Als er Jeanne eintreten hörte, wurde sein Stöhnen etwas lauter, denn sein Bein tat weh, und die ganze alberne Angelegenheit hatte ihn keineswegs amüsiert, sondern geärgert, obwohl er sich das selbstverständlich nicht anmerken ließ. Jetzt hätte er sich gern Jeanne gegenüber darüber ausgelassen. Zu seiner Verwunderung schien sie ihn und seinen Unmut gar nicht zu bemerken. Ein Blick auf die Gestalt, von der die stinkende Brühe mitten in den Raum tropfte, ließ ihn allerdings davon absehen, in dieser Situation weiter um Aufmerksamkeit zu heischen.
Jeanne brauchte einige Zeit, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Die physische Erschöpfung zu meistern war das eine, die schwierige Notwendigkeit, sich und ihre schmutzigen Kleider zu reinigen, das andere. Die Zeit blieb stehen. Nach diesem Erlebnis entwickelte sie am ganzen Oberkörper einen juckenden Hautausschlag, den sie gleichwohl täglich wieder mit fest umwickelten Leinenstreifen bedecken musste. Für Tage versenkte sie sich in sich selbst, beachtete Commerson nicht, verließ die Kajüte nicht, tigerte wie ein Tier im Käfig unentwegt in dem kleinen Raum hin und her. Commerson verließ die Kajüte so oft er konnte, überließ Jeanne ihren Gefühlen. Er wusste nicht, was er ihr sagen konnte, hoffte, sie würde sich selber heilen. Seine Laune verschlechterte sich von Tag zu Tag. Niemand beachtete ihn weiter. Bei Tisch mit dem Kapitän und den Offizieren war die Äquatortaufe längst kein Gesprächsthema mehr. Commerson, sonst bisweilen ein sehr charmanter Unterhalter, schwieg nun meistens still. Andere nahmen ohne weiteres seine Rolle ein, denn eigentlich waren sie eine muntere Gesellschaft, und niemand schien sich an seiner plötzlichen Schweigsamkeit zu stören. Jeanne weigerte sich über Tage, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Wenn seine Wunde, die sich inzwischen sehr gebessert hatte, Aufmerksamkeit brauchte, pflegte sie ihn, sonst blieb sie für sich. Commerson versuchte, sich mit den Tieren des Meeres abzulenken, dachte daran, vielleicht den einen oder anderen interessanten Fisch oder ein anderes Meereswesen aus dem Wasser zu fangen. Aber sozusagen in der Mitte dieses riesigen Ozeans, weit ab von jedwedem Land, schien das Meer leer geradezu, als wäre diese Einsamkeit selbst für die Bewohner der unendlichen Stille nicht mehr attraktiv.
Jeanne durchlebte qualvolle Tage und Wochen. Sie war am Boden zerstört und brachte sich nur langsam dazu, sich ihrer Situation zu stellen. Nein, sie hatte sich nicht vorstellen können, auf was sie sich würde einlassen müssen. Wie falsch und gefährlich war doch ihre romantische Idee gewesen, mit Philibert, ihrem Herrn und Geliebten, um die Welt zu segeln. Unter diesen Voraussetzungen. Nun wurde ihr klar, dass Philibert nicht mehr ihr Geliebter war. Sie wollte ihm nicht vorwerfen, sie nie geliebt zu haben. Es gab lange, glückliche Zeiten mit ihm. Allerdings hatte er immer nur sein eigenes Wohl im Auge behalten. Sie war ihm nützlich, in Toulon-sur-Arroux und in Paris, und natürlich, als er jemanden brauchte, der ihn auf dieser Reise begleitete. Er hatte keine Sekunde darüber nachgedacht, welchen unmöglichen Strapazen sie ausgesetzt sein würde. Man konnte ihm zugutehalten, dass er das Ausmaß all der Schwierigkeiten natürlich selber nicht hatte überblicken können. Aber er hatte auch sonst niemals darüber nachgedacht, wie es ihr erging. Er war imstande, seinen eigenen Sohn ohne zu zögern bei seinem Schwager zurückzulassen, hatte diesen nie wieder auch nur erwähnt. Wie konnte sie da erwarten, dass er ihr Kind ertragen würde? Wenn sie alles überdachte, mit klarem Kopf und ohne jene romantische Brille einer sich nach Liebe und Anerkennung sehnenden Frau, dann war ihre Beziehung von Anfang an eine zwischen Herrn und Diener. Solange sie Frau sein konnte, nahm Philibert diese Annehmlichkeit gerne an. Was jetzt blieb, war aber genau das: Herr und Diener. Sie hatten sich beide blauäugig in diese besondere Situation hineinmanövriert. Und Jeanne verstand auch das mit klarem Kopf: sie würde weiter machen müssen. Vielleicht hatte sie das Schlimmste überstanden. Die Taufe war vorbei, ihre Behauptung, sie sei entmannt worden, bewahrte sie bisher sehr gut vor weiteren Angriffen. Und beim Kapitän hatte sie ein gutes Gefühl. Wenn sie sich nichts zu Schulden kommen ließ – und was hätte sie schon Falsches tun können –, würde La Giraudais sie weiterhin vor den Männern schützen.
Nach und nach, je klarer sie ihre Situation erkannte, je sicherer sie war, dass sie allein und ohne die Hilfe von Philibert de Commerson diese Reise würde durchstehen müssen, fühlte sie die Kraft, die sie ursprünglich gespürt hatte, als sie sich zu diesem wahnsinnigen Abenteuer bereitfand, zu sich zurückkehren. Sie spürte, dass da wieder ein Wille war, eisern, unbeugsam. Sie, Jeanne Baret, würde sich nicht unterkriegen lassen. Wenn sie erstmal an Land gingen, konnte sich der Zweck dieses Unternehmens erfüllen. Sie würde Monsieur de Commerson helfen, so gut es ging. Sie könnte ihr eigenes Wissen erweitern. Sie würden Pflanzen, Käfer, Insekten finden, die noch kein Mensch vor ihnen benannt hatte. Das war ihre Aufgabe, und sie würde sie auch erfüllen. Von nun an wollte sie die Zähne zusammenbeißen und sich nicht mehr beklagen.
Als sie wieder mit ihm sprach, war Philibert de Commerson erleichtert. Dass Jeanne eine andere geworden war, bemerkte er hingegen nicht.
12.
„Ein Eunuch, sagen Sie?“ Bougainville dachte nach. „Kein Wunder, dass die Männer irritiert waren. Sieht er denn sehr weibisch aus? Hat er irgendwelche – nun, Besonderheiten?“ Giraudais verneinte. „Besonderheiten, Auffälligkeiten in dieser Hinsicht, nein, würde ich nicht sagen. Er ist von zarter Gestalt und hat durchaus etwas – wie soll ich sagen, er wirkt eben nicht wie ein Kerl, wenn Sie verstehen, was ich meine, vor allem, wenn man ihn mit den meisten meiner Matrosen vergleicht. Aber weibisch? Ausgesprochen weibisch, nein, würde ich nicht sagen.“
„Nun, dann sind die Schwierigkeiten, von denen Sie sprachen, jetzt doch wohl aus dem Weg geräumt?“
„Was die meisten meiner Männer angeht, denke ich, kann ich das bejahen. Allerdings gibt es einzelne Personen, meinen Schiffsarzt, Monsieur Vivès vor allem, die sich immer noch nicht wirklich beruhigt haben und das Gerücht, er sei doch eine Frau weiterhin aufrechterhalten. Wie gesagt, es steht augenblicklich nicht mehr so im Vordergrund des Interesses meiner Männer, aber ich bin sicher, ein neuerlicher Angriff wäre jederzeit möglich, wenn die Gelegenheit sich dazu bietet. Ich hoffe aber, dass die kommenden Wochen uns allen reichlich Ablenkung von solchen unerfreulichen Nichtigkeiten bieten werden.“
Bougainville war der Sache schon überdrüssig. „Sehen Sie zu, dass sie diesen Vivès im Zaum halten, lieber Giraudais. Und schicken Sie mir die beiden, Monsieur de Commerson und diesen Jean Baret heute noch zu mir auf die Boudeuse.“
Dann widmeten sie sich einem anderen, für Bougainville weit schwerwiegenderem Problem. Man würde für die jetzt beginnende Fahrt Proviant an Bord holen müssen. Es hatte sich herausgestellt, und Giraudais war seine Nachlässigkeit außerordentlich peinlich, dass seine Offiziere die Lagerung der notwendigen Lebensmittel in Rochefort verhindert hatten zugunsten billiger Konsumgüter, die man in den fernen Ländern zu einem guten Preis verkaufen wollte. Spiegel, Perlen, billige Stoffe und anderen Tand. Giraudais hatte dafür gesorgt, dass das meiste davon auf die heimischen Märkte in Rio geworfen war, ehe Bougainville sein Schiff inspizierte. Aber da war jetzt eben eine Lücke in der Ladung, wo Proviant für die Weiterreise hätte sein sollen. Bougainville war entsetzt. Man würde also auf dem Weg in den Süden noch einmal in Montevideo Halt machen müssen, um die notwendige Versorgung für die Durchfahrt durch die Magellanstraße zu gewährleisten. Wertvolle Zeit würde verloren. Zeit, von der Bougainville fürchtete, dass sie ihm später fehlte. Für die gesamte Reise hatte Ludwig ihm zwei Jahre zugebilligt. Zu viel davon war schon durch die aufwändige Übergabe der Malouines und die Rückfahrt nach Rio verstrichen, wohin er französische Siedler bringen musste, die nicht länger unter spanischer Herrschaft auf den Inseln leben wollten. Jetzt drängte es Bougainville, endlich loszusegeln.
Einige Stunden später betraten Monsieur de Commerson und Jeanne Baret den Anleger der Boudeuse. Sie wurden von einem jungen Offizier in Empfang genommen, dem Commerson seinen Namen nannte und hinzufügte: „Botaniker seiner Majestät, des Königs von Frankreich.“ Auf Jeanne hinweisend sagte er noch: „Mein Bursche. Wir werden vom Kommandanten erwartet.“ Der Offizier machte eine angedeutete Verbeugung und ließ sich nicht anmerken, was er von diesem Menschen hielt, der das Gefühl seiner Bedeutung so offensichtlich vor sich hertrug. Der Bursche, der sich bescheiden hinter dem Herrn hielt, trug eine Pflanze von außerordentlicher Farbenpracht, mit wundervollen violetten Blüten wie es schien. Der Offizier lächelte dem Jungen zu, der jedoch nicht reagierte.
Bougainville begrüßte Commerson liebenswürdig, erkundigte sich, da er von gewissen Problemen durch Kapitän Giraudais erfahren habe, nach seinem Bein, worauf Commerson geschmeichelt behauptete, es sei alles in bester Ordnung, da die Wunde auf dem Weg sei, sich zu schließen. Und als Bougainville sich weiterhin nach dem bisherigen Verlauf der Reise erkundigte, gab Commerson die Antwort, wirklich alles habe sich zu seiner größten Zufriedenheit abgespielt. Durch die Liebenswürdigkeit von Kapitän Giraudais sei er in den Genuss der Kapitänskajüte gekommen, was wegen der großen Anzahl notwendiger Utensilien für seine Aufgabe von unschätzbarem Wert sei und wofür er dem Kapitän von Herzen danke. Ob sie irgendwelche Unannehmlichkeiten auf der langen Fahrt gehabt hätten, fragte Bougainville weiter und Commerson verneinte nonchalant. Dabei wendete er sich seiner Begleitung zu, bat Jeanne vorzutreten und zeigte dem Kommandanten die außerordentlich prachtvoll blühende Pflanze.
„Wir haben dieses Gewächs in der nahen Umgebung von Rio de Janeiro gefunden, wo es überaus üppig und zahlreich wächst. Es ist in unseren Breiten und daher bei unseren Wissenschaftlern bisher gänzlich unbekannt, und ich habe die Ehre und das Vergnügen, diese Pflanze Ihnen, lieber Kommandant, zu widmen, beziehungsweise nach Ihnen zu benennen. Jean, überreiche dem Kommandanten unsere Bougainvillea.“
Einen Augenblick vergaß Bougainville, dass es noch einige unangenehme Fragen und Sachverhalte zu klären gab und schien hoch erfreut über dieses ganz einmalige Geschenk. Nicht nur war diese Bougainvillea eine Augenweide, der Kommandant verstand unmittelbar, dass sein Name mit der Benennung dieser Blume, von der er nicht wissen konnte, es aber durchaus ahnte, dass sie ihren Siegeszug auch in der Heimat antreten würde, dass sein Name allein hierdurch unsterblich würde.
Nachdem er sich ausgiebig bedankt hatte und noch einige schmeichelhafte Komplimente ausgetauscht waren, schickte der Kommandant den Jungen weg und hielt Commerson für ein Gespräch unter vier Augen zurück. Niemand erfuhr je, was dort gesagt wurde. Dem Kapitän der Étoile wurde lediglich mitgeteilt, dass Monsieur de Commerson für vier Wochen seine Kabine nicht verlassen durfte. Man handhabte diesen Befehl diskret. Allein Giraudais ahnte, dass diese Strafe tatsächlich die Konsequenz eines Vergehens war, und der Kapitän konnte sich vorstellen, womit alles zusammenhing. Aber da Bougainville keine Begründung für seine Anordnung gab und ansonsten alles so blieb wie bisher, sah sich Giraudais nicht genötigt, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen.
Jahre später, als Bougainville von seinem Treffen mit Diderot nach Hause zurückgekehrt war und bei einem Glas Wein diesen Augenblick Revue passieren ließ, gestand er sich ein, welches damals seine Beweggründe waren. Sofort, als er diesen jungen Diener des etwas aufgeblasenen Botanikers sah, war ihm klar, dass dies kein normaler Junge war. Es stimmte schon, normalerweise hätte er den Burschen gar nicht weiter beachtet, wäre ihm an dem Menschen nicht viel aufgefallen. Eine gewisse Zartheit im Körperbau war vielleicht tatsächlich auffällig. Aber darüber hätte er sich keine Gedanken gemacht. Da er aber über all die Gerüchte in Kenntnis gesetzt worden war, musst er sich eingestehen, dass niemand, der einen klaren Blick besaß, sich über das Geschlecht diese Jean täuschen konnte. Bougainville dachte unmittelbar, als Jeanne ihm die Pflanze überreichte, dass sie eine Frau war. Sie hatte, was für ihre Verkleidung sicher von Vorteil war, kein auffällig hübsches, weiches Gesicht. Ihr Äußeres war nicht unangenehm und sicher nicht unsympathisch, aber er würde sie eher als herb bezeichnet haben. Sie hatte wache, dunkle Augen und schien in allen Bewegungen kontrolliert. Als sie die Pflanze überreichte, tat sie das auf eine zurückhaltende Art.
In wenigen Augenblicken traf Bougainville seine Entscheidung. Er entließ Jean, um mit seinem Herrn zu reden und dann konfrontierte er Commerson mit seiner Entdeckung. Dieser stritt es nicht weiter ab, argumentierte aus der Not heraus, dass dieser Gehilfe wirklich der einzige war, der ihn sinnvoll begleiten konnte, und es sei ein unglücklicher Umstand, dass diese Person ausgerechnet eine Frau war. Er habe keinerlei unanständige Absichten bei allem verfolgt, lediglich das Argument, seine Arbeit zum Erfolg führen zu können, habe gezählt.
Da die Dinge nun so weit gediehen waren, dass sein Kapitän, Monsieur La Giraudais, betroffen war, der den Fall nicht aufgedeckt hatte und unweigerlich zur Rechenschaft gezogen würde, da darüber hinaus eine Entlarvung des Gehilfen als Betrüger zu dessen Ausschluss aus der Expedition führen musste, und der Botaniker seiner Aufgabe, der Entdeckung neuer Pflanzen für den König, nicht erfolgreich würde nachkommen können, fasste Bougainville einen Entschluss. Er machte Commerson klar, dass er diese Angelegenheit so lange wie eben möglich auf sich beruhen lassen werde, dass er Commerson dringend rate, sich um das Wohl seines Gehilfen zu bemühen und ihn vor allen unangemessenen Angriffen von wem auch immer zu beschützen. Gleichzeitig teilte er ihm mit, dass diese Missachtung der königlichen Anweisung keineswegs ungestraft bleiben könne, er ihn deswegen zu einem Arrest von vier Wochen in seiner Kabine verurteile, die angemessene Strafe für einen Offizier oder eine gleichrangige Person auf einem Schiff, wobei er ihm gleichzeitig versicherte, dass er ein weiteres Zuwiderhandeln gegen Recht und Gesetz auf seinem Schiff nicht dulden werde. Dies als Warnung. Damit entließ er den völlig erschütterten Commerson.
Die Entscheidung war ein Wagnis. Aber Bougainville rechtfertigte sich vor Gott und den Menschen mit der Gewissheit, dass er diese ungewöhnliche Person, die schließlich einen außerordentlichen Mut bewiesen hatte und eine erstaunliche Ausdauer, denn sie war dieser Maskerade seit über einem halben Jahr gewachsen geblieben, dass er diese Frau nicht einfach von Bord werfen oder allein in Rio zurücklassen konnte. Ohne Freunde, ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld hätte er sie unweigerlich der Armut und Prostitution ausgesetzt. Bougainville war ein aufgeklärter Menschenfreund. Und irgendwie glaubte er daran, dass sie durchhalten würde.
13.
Für Jeanne folgte eine ruhige Zeit. Am 15. Juli verließen die beiden Schiffe, die Boudeuse mit dem Kommandanten an Bord und die Étoile, den Hafen von Rio de Janeiro, um gen Süden zu segeln. Die See war ruhig, das Wetter strahlend, und Jeanne hatte zum ersten Mal Zeit für sich, da Commerson seine Strafe in der Kajüte abzusitzen hatte. Zum ersten Mal auch setzte sie sich auf dem Vorderschiff auf Deck und blickte über den Ozean. Das Meer war hier in der Nähe des Landes durchaus belebter als in der öden Weite des durchquerten Atlantiks. Sie sah Fische, die sie nicht benennen konnte, aber sie bemerkte einige Unterschiede und erkannte dieselbe Art nach einer Weile auch wieder. Hier und da durchzogen Stränge von Seetang das Wasser und weckten ihr Interesse. Leider gab es hier keine Möglichkeit, die merkwürdigen Erscheinungen näher zu untersuchen. Sie hätte manches Mal nicht einmal sagen können, ob es sich um Pflanzen oder Tiere handelte.
An manchen Tagen kamen Pierre und Émile zu ihr, die einzigen, die sie nicht verfolgt und die ihr in all den Monaten auf eine kaum merkliche Weise einen gewissen Rückhalt gegeben hatten. Einmal, als Pierre allein gekommen war, sagte er unvermittelt: „Hast du Schmerzen da unten?“ Jeanne brauchte einen Augenblick bis sie begriff, worauf er anspielte.
„Nein“, antwortete sie dann mit Bedacht, „heute nicht mehr.“ Pierre nickte zustimmend, als habe er das so erwartet und fragte dann weiter: „Und mit den Weibern, da hast du nichts mehr zu tun, oder?“
„Nein.“ Jeanne schüttelte den Kopf.
„Und, wie ist das so? Man sagt, man will immer noch, kann aber nicht. Das muss doch … leidest du darunter?“
Jeanne musste sich in Acht nehmen, nicht laut los zu lachen. Sie wandte ihr Gesicht ab, damit Pierre nicht etwa aus ihrer Miene falsche Schlüsse ziehen konnte.
„Nein“, sagte sie dann wahrheitsgemäß, „ich leide nicht darunter. Die Weiber, weißt du, die sind mir egal.“ Sie sprachen nicht wieder darüber.
Und dann tauchten plötzlich gewaltige Meereswesen auf, wie Jeanne sie natürlich noch niemals gesehen hatte und die auch jenseits ihrer Vorstellungswelt lagen. Das waren riesige Tiere, mehr als zehn Meter lang mit großen seitlichen Flossen und einer ebensolchen enormen, gespaltenen Schwanzflosse, mit der sie manchmal hart auf das Wasser klatschten: Vor allem, wenn sie, wie ihr schien, aus reiner Lebensfreude mit dem gesamten Körper aus dem Wasser sprangen und dann wieder zurückfielen. Einige der Tiere wurden von deutlich kleineren begleitet. Mutter und Kind, ging es ihr durch den Kopf. Andere schienen gemeinsam zu handeln, um Futter zu gewinnen. Jedenfalls beobachtete Jeanne, dass sie sich formierten, und dann stiegen zwischen ihnen Blasen auf und offensichtlich ein Schwarm kleinerer Fische. Auch wenn Jeanne nicht alles genau erkennen konnte, sah sie doch, wie die Tiere ihre enormen Mäuler aufsperrten und offensichtlich verschluckten, was immer sie da aufgewirbelt hatten. Stunden konnte sie so sitzen und sich an dem gewaltigen Schauspiel erfreuen.
„Erlauben Sie, Monsieur Baret?“ Jeanne fuhr zusammen, drehte sich zu dem Sprecher um und wollte sich erheben, als sie den Astronomen der Expedition erkannte, Monsieur Véron.
„Oh bitte, bleiben Sie sitzen. Ich würde mich gern einen Augenblick zu Ihnen gesellen, wenn es Ihnen recht ist.“
Jeanne wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie kannte Monsieur Véron, oder besser, sie wusste, wer er war und hatte immer den Eindruck gehabt, dass er sie freundlich, ja, vielleicht sogar wohlwollend ansah, in den seltenen Fällen, in denen sie ihm über den Weg gelaufen war. Aber er hatte sie noch niemals angesprochen, wozu es ja auch noch nicht wirklich Gelegenheit gab. Dass er sich jetzt so überaus höflich an sie wandte, verwirrte sie.
„Ein herrliches Wetter und ein außerordentliches Gefühl, so mitten durch diese großartigen Wasserwelten dahin zu gleiten. Man hat geradezu das Gefühl, das Schiff zerschneide die Wellen. Würden Sie mir zustimmen, Monsieur Baret?“
„Gewiss“, antwortete Jeanne, gänzlich eingeschüchtert.
„Nennt man sie Wale?“ fragte sie jetzt, und ihr Interesse triumphierte über ihre Schüchternheit.
„Nein. Es sind wundervolle Geschöpfe. Sie scheinen vor nichts Angst zu haben, nicht einmal vor unserem Schiff. Und sie sind voller Lebensfreude. Sehen Sie nur, wie übermütig sie aus dem Wasser springen!“
Man hörte die Fluten auf das Wasser klatschen. Mutiger geworden, weil Monsieur Véron so offensichtlich die gleiche Freude an dem Anblick hatte, wie sie selber, fügte sie hinzu: „Und sehen Sie, manche Tiere haben ihren Nachwuchs bei sich, das werden wohl weibliche Tiere sein.“
„Sie haben eine gute Beobachtungsgabe, Monsieur Baret. Darf ich fragen – bitte nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel, und bitte, missverstehen Sie mich nicht. Ich möchte keineswegs unhöflich sein oder Sie beleidigen. Ich habe Sie mit Monsieur de Commerson gesehen, wie sie beide über die Objekte gesprochen haben, die sie an Bord gebracht haben. Ich muss gestehen, dass ich erstaunt war, Sie so kenntnisreich sprechen zu hören. Sie sind, wenn ich nicht irre, der Bursche von Monsieur de Commerson, und ich nehme daher an, dass ihr Hintergrund ein eher einfacher ist. Ihre Familie …?“ Er geriet ins Stocken.
„Mein Vater ist Tagelöhner, Monsieur Véron, wir leben in der Bourgogne. Er ist ein braver Mann. Aber ich hätte ihm nur ungern geholfen, wissen Sie. Es war ein Glück, dass Monsieur de Commerson mir eine Stellung angeboten hat.“
„Umso erstaunlicher, wenn ihre Familie doch eher bescheiden ist“, versuchte Véron noch einmal, seiner Verwunderung Ausdruck zu geben. Jeanne lächelte. „Meine Mutter hat mir lesen und schreiben beigebracht, Monsieur Véron. Es ist mir bewusst, dass das eher ungewöhnlich ist. Ich habe, wie gesagt, großes Glück gehabt, und ich möchte mich dieser Gnade dankbar erweisen, indem ich Monsieur de Commerson so gut zu Diensten sein kann wie nur eben möglich.“
Monsieur Véron nickte dem Jungen wohlwollend zu. Er fragte sich, welch ungewöhnlicher Umstand wohl die Mutter dieses Jean, Frau eines Tagelöhners, dazu befähigt hatte, selber lesen und schreiben zu lernen und wieso sie es ihrem Sohn beigebracht hatte. Wohl, weil sie für ihn ein besseres Leben erhoffte. Und hatte sie nicht Recht damit? Er stand auf und verabschiedete sich mit den Worten: „Es war sehr angenehm, mit Ihnen zu plaudern, Monsieur Baret. Vielleicht können wir das ein anderes Mal fortsetzen.“ Und ehe Jeanne noch aufstehen konnte, sagte er wieder: „Oh bitte, bleiben Sie sitzen, ich bitte Sie.“ Dann war er gegangen. Mit Verwunderung dachte Jeanne, was für ein liebenswürdiger Mann der Astronom war.
Monsieur Véron ging nachdenklich von dannen. Auch er war verwirrt. Dieser Monsieur Baret ist wirklich ein seltsamer Mensch, dachte er. Er hatte natürlich, wie jedermann an Bord, von all den Gerüchten gehört, hatte Vivès’ Sticheleien mitbekommen und seine fortgesetzten Behauptungen, es handele sich trotz aller gegenteiliger Aussagen doch um eine Frau, die der liederliche, so genannte Doktor Commerson sich in seiner Kajüte hielt. Véron kannte auch den letzten Stand der Dinge, dass Monsieur Baret ein Eunuch sei, ein durch welchen Umstand auch immer unglücklich Entmannter. Er konnte sich keinen Reim auf alles machen. Er hatte ein gutes Gefühl, wenn er mit dem Jungen sprach, und ja, vielleicht war da ein gewisses weibliches Element, das eine Rolle spielte. Nun, er wollte diese Dinge nicht weiter hinterfragen, auch um nicht etwa zu Erkenntnissen zu kommen, die der Angelegenheit keineswegs zuträglich sein konnten und ihn möglicherweise in Peinlichkeiten verwickeln würden.
Einige Tage später suchte er Jeanne wieder bei ihrem Beobachtungsposten auf dem Vorderschiff auf. „Ich höre, dass Monsieur de Commerson unpässlich ist und seine Kabine nicht verlassen kann. Darf ich vermuten, dass dies auch der Grund ist, warum Sie so viel Zeit mit ihren erfreulichen Beobachtungen verbringen können?“
„So ist es, ja. Ich habe ein wenig Zeit für mich, und ich muss gestehen, dass ich die Gelegenheit genieße.“
„Ich würde Sie gern um einen Gefallen bitten, Monsieur Baret, wenn Sie erlauben. Wenn Sie keine anderen Verpflichtungen haben in diesen Tagen, wäre es Ihnen vielleicht möglich, mir beim Aufbau und beim Justieren meiner Gerätschaften zu helfen? Sie haben sicher von der anstehenden Sonnenfinsternis am 25. Juli gehört. Sie könnten mir wirklich helfen. Sie sind sehr feinfühlig in solchen Dingen, wie ich beobachten konnte, wenn Sie mit Monsieur de Commerson unterwegs sind. Und ich habe mehr Vertrauen in Ihr Geschick als in das der Matrosen. Nicht dass sie nicht willens wären, mir zu helfen, aber sie sind eher gewohnt, mit starken Seilen und Tauen umzugehen, bei denen es nicht unbedingt auf Präzision ankommt.“
Jeanne war überglücklich und stimmte freudig zu.
„Wie kommt es, dass Sie so etwas vorhersagen können, Monsieur Véron?“ traute sie sich zu fragen.
„Nun, das sind einfache Berechnungen.“
„Einfache Berechnungen?“
„Na ja, das ist nicht allein mein Können. Ich profitiere von den Beobachtungen, die andere Astronomen über Jahre, was sage ich, Jahrhunderte gemacht haben. Man beobachtet den Himmel, die Sterne, die Sonne und den Mond. Und dann fallen bestimmte Gesetzmäßigkeiten auf, Regelmäßigkeiten und daraus lassen sich dann Berechnungen anstellen.“ Jeanne bemühte sich, ihm zu folgen.
„Nehmen Sie die Sonne“, fuhr Monsieur Véron fort, „Sie werden doch zugeben, dass sie jeden Morgen auf- und jeden Abend untergeht.“
„Natürlich, aber …“, sie zögerte. „Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, aber trotzdem scheint mir das nicht regelmäßig zu sein. Nein, ich meine gleichmäßig. Sie kommt nicht gleichmäßig. Die Tage sind im Sommer doch länger und im Winter kürzer. Irgendwie verändert sich das. Wie können Sie das berechnen?“
„Sie beobachten wirklich sehr genau, Monsieur Baret. Es ist eine Freude, mit Ihnen darüber zu sprechen. Nun, das will ich Ihnen später erklären. Jetzt kommen wir zum Mond. Haben Sie schon einmal den Mond beobachtet?“
Nein, beobachtet hatte sie ihn nicht. Sie hatte ihn schon oft gesehen, zu Hause. Aber manchmal war er da und manchmal nicht. Manchmal gab es Vollmond, dann wieder war er ganz verschwunden, oder man sah nur ein Stück von ihm. Und wenn der Himmel voller Wolken war, sah man ihn ohnehin nicht. Dann war er wohl da, hinter den Wolken. Aber woher er kam und vor allem, wie man diese Unregelmäßigkeit berechnen konnte – denn dass es da eine Regelmäßigkeit gäbe, konnte sie nun doch nicht sehen –, das alles war ihr nicht wirklich einsichtig.
Véron versuchte, es dem Jungen zu erklären. Dass die Erde eine Kugel sei, wisse er natürlich. Ja, das war ihr klar, denn sonst könnten sie ja nicht um die Welt segeln. Eine Kugel, fuhr er fort, die sich einerseits um sich selber, sich andererseits um die Sonne drehe.
„Und warum merken wir davon nichts, wenn sich die Erde dreht? Dreht sie sich so langsam?“
„Nein, im Gegenteil, sie dreht sich sogar sehr schnell. Aber wir haben uns eben daran gewöhnt. Deswegen merken wir es nicht. Es ist wie mit dem Schiff. Am Anfang merken Sie sehr stark, wie es schwankt, nicht wahr? Und dann gewöhnen Sie sich daran. Und wenn Sie nach langen Wochen auf See wieder an Land gehen, dann merken Sie auch, dass der Boden unter ihren Füßen nicht mehr schwankt.“
Ja, das war in der Tat genauso, wie er sagte. Und dann hörte sie noch, dass der Mond sich um die Erde drehe und dabei eine bestimmte Geschwindigkeit habe, die sein Erscheinen tatsächlich in schöner Regelmäßigkeit verursache. Regelmäßigkeit, die man sehr genau berechnen könne, auch wenn die einem laienhaften Beobachter nicht immer auffiele. Dass der Mond die verschiedenen Phasen aufweise, die sie ja auch schon bemerkt habe, das sei nun abhängig davon, wie Sonne, Mond und Erde zu einander stünden. Und je nachdem, wie viel von der Oberfläche des Mondes von der Sonne dabei beschienen würde. Manchmal gäbe es dann Konstellationen, die dazu führten, dass der Mond sich am hellen Tag zwischen die Erde und die Sonne schöbe und wenn man dann gerade auf dieser Welt am richtigen Ort sei, dann könne man das sehen. Und das sei eben in zwei Tagen so weit, und er könne die Stunde, ja sogar die Minute genau vorhersagen. Nein, eben nicht vorhersagen, sondern berechnen. Das sei keine Zauberei, das sei Wissenschaft.
Véron wusste, dass sich manche Matrosen über ihn lustig machten und ihm war auch klar, dass sie ihn, auch wenn er ihnen bewiesen hatte, dass er wusste, wovon er sprach – und genau das würde ja geschehen –, für einen Scharlatan, einen Zauberer, vielleicht sogar für einen bösen Teufel hielten. Aber bei Baret hier war das anders. Er sah es in seinem Gesicht, welche Schwierigkeiten der hatte, all das zu schlucken, denn er war offensichtlich niemals mit solchen Fragen in Berührung gekommen. Aber er hatte ein offenes Ohr für alles Neue, er lehnte nicht sofort ab, wenn er etwas hörte, das er nicht verstand. Er fragte nach, versuchte zu verstehen, suchte in seiner Unkenntnis nach Möglichkeiten, die über seinen Verstand zunächst hinaus gingen und prüfte, ob er dem Unwahrscheinlichen trotzdem trauen konnte. Ein wirklich fantastischer Junge. Nie war ihm so jemand begegnet. Sohn eines Tagelöhners.
Jeanne ließ das alles sacken. Sie war nicht sicher, ob sie alles richtig verstanden hatte. Sie ließ es sich wieder und wieder erklären. Alle waren aufgeregt, in Erwartung der prophezeiten Sonnenfinsternis. Die Offiziere versammelten sich zum angegebenen Zeitpunkt an Deck. Selbst die Matrosen waren voller Spannung, auch wenn einige sich über den Unsinn lustig machten. Am 25. Juli um kurz nach vier Uhr nachmittags verdunkelte eine Wolke die Sonne, so dass der Vorgang nicht in seinem vollen Ablauf beobachtet werden konnte, wie der Kommandant in sein Logbuch schrieb. Véron hatte die totale Finsternis für 16 Uhr 19 Minuten angegeben. Glücklicherweise lockerten die Wolken immer wieder auf, so dass alles tatsächlich so geschah, wie Véron es vorhergesagt hatte, wenn auch die eigentliche Faszination ausblieb, die stille Erschütterung, die den Menschen von je her ergriff, wenn bei klarem Himmel und hellem Sonnenschein plötzlich eine schwarze Scheibe den leuchtenden Himmelsball zu verdunkeln, ja auszulöschen drohte. Als die Sonne an jenem 25. Juli 1767 vor der Küste Südamerikas wieder sichtbar wurde, hatte der Mond sie fast schon wieder frei gegeben.
14.
Am selben Abend noch trafen sich Jeanne und Véron noch einmal auf dem Vorderdeck und blickten in den jetzt klaren, wolkenfreien Sternenhimmel. Jeanne fiel ein, wie sie als Kind ihre Mutter gefragt hatte, ob es genauso viele Buchstaben wie Blumen gäbe. Inzwischen konnte sie die unendliche, unübersehbare Fülle immer neuer Pflanzen, die sie hier entdeckt hatten und noch entdecken würden, nicht mehr erstaunen. Aber der Blick in den Himmel, der so ganz anders war als zu Hause, ließ sie jetzt noch einmal eine ähnliche Frage stellen. Ob es wohl mehr Pflanzen auf Erden als Sterne am Himmel gäbe? Und Véron ließ sich einen Augenblick Zeit mit seiner Antwort.
„Wenn ich die Größe unserer Welt versuchen will, zu begreifen“, sagte er schließlich, „bin ich überwältigt von der Vorstellung der Vielfalt all der unterschiedlichen Geschöpfe, Menschen und Tiere. Und dann erst Pflanzen, all die Bäume, Sträucher, Blumen, Gräser. Ich bin überzeugt, kein Mensch wird sie jemals zählen können. Und doch, Monsieur Baret, ist unsere Welt begrenzt. Denken Sie nur, wir sind gerade dabei, um sie herum zu segeln. Und auch, wenn es eine lange Zeit dauert, bis wir diese Reise vollendet haben: wir können es in wenigen Jahren schaffen. Aber das Weltall da oben, mein lieber Baret, das Universum ist so unendlich viel größer und weiter als diese Erde. Natürlich kann auch niemand die Sterne zählen, und so kann ich ihre Frage vielleicht nicht mit der von Ihnen gewünschten Präzision beantworten. Aber ich glaube, nein, ich bin überzeugt, alles, was sich hier auf Erden befindet, was immer man zählen kann, ist gering anzusehen im Vergleich mit dem, was wir über uns sehen.“
Sie gaben sich diesem Anblick hin. Eine Dunkelheit war da, die übersät war mit Abermillionen von Lichtpunkten, die zu glimmen und in Bewegung zu sein schienen, fast so, als wenn man über die ruhige See in eine unendliche Weite blickte, deren Stille von den sich ständig kräuselnden Wellen belebt wurde.
Fasziniert saßen sie nebeneinander. Beide empfanden das Außerordentliche dieses bewegenden Momentes, der sie einander nahebrachte. Fast schon spürten sie eine besondere Vertrautheit, die Jeanne irritierte und Véron mit einem unbegreiflichen Glücksgefühl erfüllte. Und dann gestand Véron ihr, dass ihm nicht wohl in seiner Haut sei, weil er mit einer Aufgabe betraut worden war, vom König, wohlgemerkt, der er sich von Tag zu Tag weniger gewachsen fühle: die Bestimmung des Längengrades.
Jeanne verstand ihn nicht. Er versuchte, es ihr zu erklären, sprach von der Einteilung der Erde in Breitengrade, konzentrischen Ringen, die vom Äquator, dort, wo die Erde ihren größten Umfang hatte, in gleichen Abständen in immer kleiner werdenden, parallel verlaufenden Ringen bis zu den Polen geführt würden, wo sie dann in einem Punkt, dem Pol eben, endeten. Und gleichermaßen gäbe es imaginäre Linien, die sich vom Nordpol über die gewölbte Kugel bis zum Südpol hinzögen und dann auf der anderen Seite wieder zurück zum Nordpol liefen. Dass alle diese Ringe jeweils denselben Umfang der Erdkugel besäßen und also gleich wären. Er sagte, dass es für einen Seemann wichtig wäre, zu wissen auf welchem Breitengrad und auf welchem Längengrad ein Ort läge, beispielsweise eine Insel, die man dann jederzeit wiederfinden könnte. Und ebenso wichtig sei es, zu wissen, wo genau sich gerade das eigene Schiff befinde, auf dem man segele, im Vergleich etwa zu einer Insel, damit man sich vor Riffen oder dergleichen in Acht nehmen könne. Die Breitengrade sind anhand der Sonne oder dem Stand der Sterne jederzeit zu bestimmen. Mit den Längengraden verhielte es sich anders. Und er sei aufgefordert, auf dieser Reise eine Lösung für dieses Problem zu finden. Aber bisher sei ihm nichts ein- oder aufgefallen, was ihn dieser Lösung nahebringen könnte.
Jeanne begriff kein Wort von dem, was er sagte. Aber sie verstand, dass es offensichtlich eine enorm wichtige Aufgabe war, die man ihm anvertraut hatte. Denn die Notwendigkeit der genauen Standortbestimmung für die Schiffe konnte sie sehr wohl einsehen. Und sie sah seine Verzweiflung, sah auch, wie allein gelassen er sich damit fühlte, weil er sich ihr, einem unerfahrenen, ungebildeten Diener eines mitreisenden Gentlemans anvertraute. Sie empfand eine große Sympathie für diesen liebenswerten und bescheidenen Wissenschaftler, der an sich zweifelte, obwohl er eine solche Ungeheuerlichkeit geleistet hatte, wie die Verdunklung der Sonne vorherzusagen.
Véron seinerseits war erschrocken, weil er sich diesem Jungen so weit geöffnet hatte und weil sein Herz höher zu schlagen schien, wenn er mit ihm sprach, auf eine gleichzeitig angenehme, warme Art und dann auch wieder in bestimmter Weise Angst einflößend. Er war sehr verwirrt.
Sie wurden aufgeschreckt durch eine böse schnarrende Stimme. Der Chirurg hatte sie schon mehr als einmal mit missgünstigen Augen beobachtet und sagte jetzt mit unverschämter Frechheit: „Monsieur Véron, sieh da, holen Sie sich die Belohnung ab für ihre heutige Zauberei bei dem Liebchen unseres lieben Arztes, solange der in Klausur gehalten wird?!“
Véron war wie der Blitz aufgestanden und stellt sich vor Vivès. „Monsieur“, erwiderte er mit einer für ihn ungewohnten Schärfe, „ich weiß nicht, woher Sie die Dreistigkeit nehmen, mich derartig zu beleidigen. Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen den geringsten Anlass dazu gegeben zu haben. Auch bitte ich Sie, es nicht an dem nötigen Respekt gegenüber Monsieur Baret fehlen zu lassen. Er mag eine untergeordnete Rolle auf diesem Schiff spielen, aber er ist ein Mann von untadeligem Verhalten. Und so sehe ich mich auch. Wenn Sie ihre Worte nicht zurücknehmen, sehe ich mich gezwungen, Kapitän Giraudais hiervon Mitteilung zu machen.“
Vivès lachte ein kleines, dreckiges Lachen, machte eine übertriebene Verbeugung vor dem Astronomen und sagte: „Um Gottes Willen, ich hatte einen kleinen Scherz gemacht. Sie werden mich doch nicht derartig missverstehen wollen.“ Damit war er in der Dunkelheit verschwunden. Jeanne klopfte das Herz im Halse. Leise sagte sie: „Ich danke Ihnen Monsieur Véron. Ich glaube, ich werde mich jetzt besser zurückziehen.“
Am nächsten Tag erreichten sie Montevideo. Zu Bougainvilles Leidwesen stellte sich heraus, dass die Étoile ein Leck hatte, und als dann noch ein anderes Schiff bei ungünstigen Winden gegen den Bugspriet der Étoile stieß, und damit einen größeren Schaden anrichtete, war die ganze Expedition für mehre Wochen wegen der anstehenden Reparaturen zum Warten verurteilt. Commerson, der inzwischen seinen Arrest abgesessen hatte, und Jeanne nutzten diesen erzwungenen Aufenthalt, um die Gegend am Rio de la Plata auf gewinnbringende Pflanzen zu untersuchen. Sie fanden eine Fenchelart, deren heilende Wirkung Jeanne von der heimischen Pflanze kannte, der man aber hier eine vielleicht noch stärkere Wirkung nachsagte. Außerdem galt ihr besonderes Interesse der Opuntie, die man in diesen Breiten so üppig fand. Bei allen Sukkulenten mit ihren fleischigen Blättern, in denen die Pflanzen Wasser speicherten, und auch bei den Kakteen war das Pressen der einzelnen Teile höchst schwierig. Die Opuntie erwies sich vor allem als wichtig, weil man wusste – und vor allem die Spanier hatten sich dieses Wissen zunutze gemacht –, dass ein bestimmtes Insekt, das sich hauptsächlich von dieser Kakteenart ernährte, für den wunderbaren roten Farbstoff sorgte, mit dem die Spanier den Tuchhandel dominierten. Jeanne sammelte daher vorsichtig alle Käfer und andere Insekten von dem Kaktus ab, die ihr dafür in Frage zu kommen schienen. Man hoffte, die Tiere möglichst lebend, wenn nicht nach Frankreich, so doch auf einen französischen Standort in den kommenden Gewässern bringen zu können, damit sie sich dort etwa vermehrten und das Geheimnis des roten Farbstoffs verraten würden.
Wie bedeutend fremde Gewächse für die heimische Wirtschaft werden konnten, machte der Fall der aus dem Land vertriebenen Jesuiten deutlich, dessen Zeugen die Expeditionsteilnehmer zur Zeit des erzwungenen Aufenthaltes am Rio de la Plata wurden. Schon bei seinem ersten Besuch in Buenos Aires hatte Bougainville den starken Einfluss der Jesuiten bemerkt, die einen Teil des Landes durch strenge Überwachung der einheimischen Bevölkerung unter ihrer Kontrolle hielten. Die Jesuiten hatten offensichtlich den Fehler begangen, die Mate-Pflanze, ein Stechpalmengewächs, aus deren Blättern die Indios einen Trank brauten, der sie aufputschte, der ihr Hungergefühl dämpfte, den sie liebten und den sie seit Urzeiten auf ihren Feldern für sich ernteten, für ihre eigenen Zwecke auszunutzen. Als Paraguay-Tee trieben sie damit weit über die Grenzen einen lukrativen Handel. Sie ließen die Einheimischen ganze Plantagen dieser Pflanze anlegen und forderten dann von ihnen, dass sie von nun an für die Blätter, die sie selber ernteten, Geld bezahlen sollten. Das führte zu Aufständen, die den Spaniern Gelegenheit zum Rauswurf der Jesuiten gab, was die Verteilung der Güter des Ordens ebenso zur Folge hatte wie die Übernahme des Handels mit der Mate-Pflanze.
Jeanne und Commerson verfolgten die Angelegenheit mit Interesse und profitierten von dem nunmehr freien Zugang zu allen ehemaligen Klostergärten. Überhaupt war Jeanne ganz in ihrem Element. Die schlimme Zeit des Anfangs ihrer Reise mit all den Prüfungen und Anfeindungen schien lange vorbei.
Als man endlich im November 1767 die Weiterfahrt an die Südspitze des Kontinents in Angriff nehmen konnte, bat Bougainville Monsieur der Commerson und Monsieur Véron, von der Étoile auf die Boudeuse umzuziehen. Véron freute sich, es war ein Zeichen der Wertschätzung von Seiten des Kommandanten, was sicher auch mit der Voraussage und dem Erlebnis der Sonnenfinsternis zu tun hatte, über das Bougainville geradezu in Entzücken geraten war. Jeanne bedauerte seinen Weggang. War er doch neben Commerson der einzige Mensch, der sie ernst genommen hatte. Die Gespräche mit ihm, auch wenn sie ihn keineswegs immer verstanden hatte, waren so wohltuend, so menschlich wärmend gewesen.
Commerson hätte dem Wunsch des Kommandanten ebenfalls nur allzu gern entsprochen. Aber ein Umzug auf die Boudeuse hätte bedeutet, die geräumige Kapitänskajüte aufzugeben, die nicht nur für die Aufbewahrung seiner Pflanzen unverzichtbar schien, denn auf der Boudeuse hätte er sich wie alle anderen Herren und Offiziere mit einer einfachen Schlafkoje begnügen müssen. Darüber hinaus, und das wurde ihm jetzt zum ersten Mal in all seiner Tragweite bewusst, hatte er eine Verpflichtung gegenüber Jeanne Baret. Was immer ihr auch auf der bisherigen Reise angetan worden war – daran hatte er, so war seine Überzeugung, keinerlei Mitschuld. Mit einer solchen Entscheidung jetzt hätte er sie der sicheren Entdeckung ausgesetzt. Es war offensichtlich, dass er ihr auf der Boudeuse keinerlei besonderen Schutz garantieren konnte. Sie hätte selbstverständlich dauerhaft unter den Matrosen schlafen müssen. Selbst Commerson musste einsehen, dass er das nicht verantworten konnte. Ganz abgesehen davon, dass ihre Entdeckung auch auf ihn zurückfallen würde. Und gerade erst hatte der Kommandant sozusagen ein Stillhalteabkommen mit ihm geschlossen. Unter Angabe von Gründen, die in dem großen Platzbedarf der ständig wachsenden Sammlung naturwissenschaftlicher Studienobjekte lagen, lehnte Commerson dankend ab. Das Arrangement blieb wie es war.
Bevor sie endgültig den Anker lichteten, kam Monsieur Véron noch einmal auf die Étoile, um sich von Commerson zu verabschieden. Commerson wunderte sich ein bisschen.
„Nun, mein lieber Véron, dies ist ja kein Abschied für immer“, sagte er, „ich hoffe doch, dass wir im Laufe der nächsten Wochen noch häufiger Gelegenheit zu einem Gespräch haben werden, wenn wir an Land gehen können.“
„Gewiss“, bestätigte Véron, „darauf freue ich mich schon jetzt. Sagen Sie, ist Monsieur Baret nicht zugegen? Ich würde auch ihm gern auf Wiedersehen sagen.“
Commerson hob die Augenbrauen. Er hatte vor der Kajütentür gestanden, als Véron ihn ansprach. Jetzt öffnet er die Tür und rief in den Raum hinein: „Jean! Komm einmal her!“
Jeanne hatte gehört, wie die beiden Männer mit einander sprachen. Jetzt war sie erschrocken, wurde rot und fühlte sich irgendwie ertappt. Schüchtern kam sie heraus. Einen Augenblick standen alle drei ohne etwas zu sagen. Dann riss Véron sich zusammen.
„Es ist nur, wir werden uns eine Weile nicht mehr sehen, und ich wollte Ihnen noch einmal danken, Monsieur Baret. Es war außerordentlich liebenswürdig, dass Sie mir bei der Aufstellung meiner Gerätschaften in Zusammenhang mit der Sonnenfinsternis geholfen haben. Und ich habe die Gespräche mit Ihnen überaus genossen. Das wollte ich Ihnen sagen. Leben Sie wohl.“
Jeanne war inzwischen dunkelrot angelaufen. Sie hob die Augen nicht, als sie erwiderte: „Auch ich danke Ihnen, Monsieur Véron.“ Dann ging sie schnell wieder in die Kajüte.
Als Commerson später ebenfalls hineinkam, sagte er: „Da scheine ich ja etwas verpasst zu haben, oder?“ Jeanne antwortete ihm nicht.
15.
Die Wartungsarbeiten an der Étoile hatten Bougainvilles Pläne in Verzug gebracht. Das war nicht ganz ungefährlich. Die Passage durch die Magellanstraße wollte er auf jeden Fall während der Sommermonate, die jetzt auf der Südhalbkugel begannen, durchziehen. Je mehr sie sich dem Südkap Amerikas näherten, desto unvorhersehbarer wurden die Winde. Einige Zeit blieb die See verhältnismäßig ruhig, dann plötzlich verschlechterte sich das Wetter.
Jeanne und Commerson hatten bisher wenig Erfahrungen mit stürmischer See gemacht. Auch während der Atlantiküberquerung war es weitgehend ruhig geblieben, bis auf wenige Tage, an denen es höhere Wellen gegeben hatte. Zwar gab vor allem Commerson dann vor, große Übelkeit zu verspüren. Auch Jeanne war nicht immer ganz wohl gewesen. Aber die Mannschaft blieb bei allem ruhig und gelassen. Niemand machte viel Aufhebens davon, und schließlich hatte auch Commerson sich zusammengenommen. An jenem Abend des 21. November kamen Winde auf, die Jeanne einen gelinden Schrecken in die Knochen jagten. Commerson und sie legten sich jedoch ohne weitere Bemerkungen darüber in ihre jeweiligen Hängematten und versuchten zu schlafen. Dann aber wurde der Sturm mit einer Plötzlichkeit heftiger, die sie aus ihren Matten trieb. Riesige Wellen klatschen mit großer Gewalt gegen das Kajütenfenster. Das Schiff schwankte hin und her, so dass man sich kaum halten konnte. Zahlreiche Kisten und Schachteln, die man nicht befestigt hatte, flogen durch die Kabine, Tintenfässchen, die zur Kennzeichnung der gesammelten Objekte auf dem Tisch standen, fielen krachen auf den Boden und färbten den Fußboden schwarz und rot und grün. Commerson hielt sich krampfhaft am Türpfosten fest, und bei einem besonders heftigen Schlag gegen die Schiffswand verlor Jeanne das Gleichgewicht und stürzte mitten in das Chaos, das die Kajüte bereits überschwemmte. Weinend versuchte sie, sich ebenfalls am Türrahmen festzukrallen. Dann gab es einen fürchterlichen Ruck, gefolgt von einem schrecklichen Krach, das Schiff bekam Schlagseite, man hörte die schreienden Zurufe der Matrosen, und das Gebrüll von Tieren in Todesangst gellte ihnen in die Ohren. Jeanne war außer sich, sie hängte sich an Commerson und schrie. „Philibert! Philibert! Wir sterben, wir werden alle ertrinken, Philibert!“
Es war das erste Mal seit über einem Jahr, dass sie ihn bei seinem Vornamen rief. Denn selbstverständlich hatte sie ihn als sein Diener nur mit großer Hochachtung angesprochen. Commerson seinerseits hatte so gut es eben ging, vermieden, Jeanne direkt anzureden. Anderen gegenüber sagte er wohl: mein Bursche ist zuverlässig oder dergleichen, und zu ihr direkt würde er meistens so etwas sagen wie: dann komm jetzt, wir wollen aufbrechen. Und manches Mal, wenn es sich nicht verhindern ließ und man vermuten konnte, dass andere mithörten rief er sie beim Namen und sagte: „Jean!“ Es fiel ihm schwer, er war ein Mann der Gewohnheit und zu seinen Gewohnheiten gehörte es nicht, dass er auf irgendetwas oder irgendjemanden Rücksicht nehmen musste. Hier war es aber angeraten, äußerst vorsichtig zu sein, und er hatte sich tatsächlich alle Mühe gegeben.
Aber jetzt war nicht der Moment, an solche Dinge zu denken. Commerson hielt Jeanne an sich gepresst und versuchte, sich selber und die Frau in seinen Armen zu beruhigen in dieser Umarmung. Er wimmerte: „Jeanne, Jeanne! So helfe uns Gott!“ und Jeanne schrie jedes Mal, wenn das Schiff wieder einen besonderen Ruck tat, laut auf in ihrer entsetzlichen Not. Hätte irgendjemand sie so sehen und hören können, wäre ihre ganze Maskerade sofort aufgeflogen. Aber niemand konnte sie hören in all dem entsetzlichen Lärm, und niemand konnte sich um diese Landratten kümmern, die in diesem Augenblick den Gegebenheiten völlig hilflos ausgeliefert waren und damit für die Seemänner, die versuchten, das Schiff gegen den Sturm zu halten, nur eine Belastung darstellten. Es ging Stunden so weiter. Jeannes Geschrei war in ein Weinen und Wimmern übergegangen, und Commerson gab ebenfalls Geräusche von sich, die er in seiner Angst nicht kontrollieren konnte.
Als sich der Sturm gegen Morgen etwas legte, hörten sie die wilden Rufe und die aufgeregte Geschäftigkeit der Matrosen umso deutlicher. Schließlich schien das Schlimmste vorbei und Commerson traute sich aus der Kabine. Währenddessen versuchte Jeanne aufzuräumen und die herunter geworfenen und durcheinander gewürfelten Aufbewahrungskisten der Pflanzen zu sichten und womöglich irgendwie wieder zu ordnen und zu überlegen, wie man sie gegen zukünftige Schläge besser sichern könnte.
Commerson kam zurück mit der Nachricht, dass die Fock, das mittlere Segel am vorderen Mast, völlig vom Sturm zerrissen worden und damit praktisch unbrauchbar war. Außerdem hatte sich im Gatter der Kühe eine Sperre gelöst, so dass alle bis auf zwei Tiere über Bord gespült worden waren. Giraudais hatte ein Notsignal an die Boudeuse geschickt, aber Bougainville, dessen Fregatte weit besser durch die Nacht gekommen war, bedeutete seinem Kapitän, dass er sehen solle, wie er zurechtkomme und das zerrissene Segel durch irgendwelches Tuch ersetzen solle. Auf keinen Fall würden seine Schiffe wegen der fortgeschrittenen Zeit zurück nach Montevideo segeln.
Mit solchen Rückschlägen musste man auf See rechnen. Es würde nicht der letzte wetterbedingte Unglücksfall werden. Sie segelten weiter, erreichten Anfang Dezember das Kap der Jungfrauen und bogen dort nach Westen in die Magellanstraße ein. Das Wetter hatte sich weitgehend beruhigt.
Bougainville entschied sich für die Durchfahrt der Magellanstraße und gegen die Umseglung des noch weiter südlich, das heißt noch näher an der Antarktis gelegenen Kap Horns. Berichte von Seefahrern, die die letzte Variante genommen hatten, um sich nicht im Gewirr der irreführenden Buchten, labyrinthartigen Inseln und gefährlichen Untiefen der Magellanstraße zu verfahren und übermäßig viel Zeit zu verlieren, handelten doch alle von schrecklichen, todbringenden Stürmen und Wetterverhältnissen, die selbst den erfahrensten Seemann abschreckten.
Es gab andererseits wenig verlässliche Nachrichten über die Durchfahrt. Bougainville besaß keine Seekarte mit genauen Hinweisen auf bestimmte Gefahren, wie gefährliche Strömungen oder durch Gletschergeröll verursachte Untiefen. Die Küste war zerklüftet, es gab zahlreiche Verzweigungen, die ihn verlocken konnten, einer breiten Öffnung zu folgen, die sich dann als riesige Bucht entpuppte und ihn zur Umkehr zwang. Spanier und Engländer, die die Durchfahrt bereits passiert hatten, hüteten ihr Wissen vor der Konkurrenz. Anderthalb Jahre früher, im Frühsommer 1766 war die Étoile unter einem anderen Kapitän kurz in die Durchfahrt eingedrungen, und Bougainville kannte diesen Bericht. Da es aber keine Positionsbestimmungen gab wegen der Unmöglichkeit, den Längengrad zu ermitteln, blieb er angewiesen auf vage Beschreibungen. Bougainville bemühte sich seinerseits, jede Bewegung seiner Fregatte detailliert festzuhalten, musste sich aber eingestehen, dass Jahreszeiten und Wetterverhältnisse solche Beschreibungen für zukünftige Seefahrer wenig verlässlich machen würden.
An bestimmten Punkten konnte man sich jedoch durchaus orientieren. So kam man schon nach wenigen Tagen an die erste enge Stelle, die Primera Angustera. Die Stelle maß kaum zwei Kilometer zwischen Patagonien, dem südlichen Festland Amerikas, und der gegenüberliegenden Insel Feuerland. Die Landschaft hielt alle in Atem. An manchen Stellen der rauen Küste gab es einen niedrigen Pflanzenbewuchs von außerordentlich grüner Farbe, dazu leuchtende, gelbe Blüten auf diesen Wiesen. Dahinter erhoben sich majestätische Berge, teilweise wild gezackt und schneebedeckt. Niemand hatte je eine solche Landschaft gesehen. An den Ufern in Patagonien sah man eine Gruppe von Einheimischen, die eine französische Flagge schwenkten. Bougainville war sofort klar, dass die Étoile im vergangenen Jahr mit diesen Einheimischen Kontakt aufgenommen hatte. Da man die Fahne offensichtlich in Ehren gehalten hatte, schloss Bougainville auf eine offene und freundliche Gesinnung der Bewohner und entschloss sich, zu ankern und ebenfalls hier an Land zu gehen.
Er gab Order, sowohl von der Boudeuse als auch von der Étoile ein Beiboot mit jeweils zehn Männern an Land zu schicken, Matrosen, Offiziere und zwar zur Sicherheit durchaus mit Gewehren bewaffnet. Ehe man die Boote besetzte, bat Vivès Giraudais, um ein Gespräch. Einige seiner Männer, die sich in Montevideo mit den örtlichen Schönen eingelassen hatten, zeigten jetzt die unangenehmen Folgen dieser Begegnungen. Er schlug vor, den Botaniker und seinen Gehilfen – er enthielt sich für einmal einer obszönen Bemerkung, was diesen Gehilfen anging, obwohl er deutlich Probleme hatte, das Wort einfach auszusprechen –, ob man die beiden mit einem Wort nicht mitnehmen könne an Land, damit sie womöglich Kräuter gegen die juckenden Ausflüsse der Männer finden konnten. Es war ihm dringend, denn die Laune der Erkrankten verschlechterte sich zusehends, und die Zuverlässigkeit, was ihre Arbeit anging, ließ merklich nach, was böses Blut unter den Matrosen verursachte.
So setzte man Jeanne und Commerson in das Beiboot, in dem die beiden mit gemischten Gefühlen der Begegnung mit den wenig anheimelnden Gestalten an Land entgegensahen. Die Männer waren aber allem Anschein nach friedlich. Trotzdem ließ Bougainville Vorkehrungen treffen, so dass die Boote jederzeit wieder losfahren konnten. Eilig kamen einige Eingeborene angeritten, um die Fremden zu begrüßen. Jeanne sah, wie sie vom Pferd sprangen und laut gestikulierend „Chaoua!“ riefen. Und immer wieder riefen sie dieses eine Wort: „Chaoua! Chaoua!“ während sie näherkamen, die Hände nach den Fremden ausstreckten und sie schließlich in einer freundlichen Umarmung an sich pressten. Auch Jeanne und Commerson blieben nicht verschont. Die Franzosen antworteten ihrerseits mit dem Wort, das ganz offensichtlich die Beteuerung des allgemeinen Wohlwollens darstellte. Mehrere Male wurde Jeanne von beherzten Männerarmen gepackt und gedrückt. Sie hatte Mühe, ihre Fassung zu bewahren und ihre Angst nicht zu zeigen. Die Nähe dieser Fremden war ihr nicht wirklich angenehm, denn sie trugen außer einem Lendenschurz aus einem ledernen Material nur noch einen Umhang aus Lamafell. Diesen Umhang hatten sie um die Taille gegürtet, aber der Teil, der den Rücken und die Schultern bedecken sollte, war jetzt, im Sommer, einfach nach hinten geklappt und hing fast bis zum Boden herab. Der gesamte Oberkörper war demnach gänzlich unbedeckt. An den Füßen trugen sie ebenfalls lederne Lappen. Obwohl hier, wie Jeanne wohl verstanden hatte, Sommer war, war die Kälte erheblich, kaum 10 ° Celsius. Die Männer waren kräftig gebaut, hatten ihr langes schwarzes Haar teilweise auf dem Kopf zusammengebunden. Und sie hatten einen strengen Geruch an sich, der anders war, als alles, was sie bisher an Menschen wahrgenommen hatte.
Endlich lösten sich einige Offiziere aus der Gruppe, um mit Commerson und seinem Gehilfen auf die Suche nach nützlichen Pflanzen zu gehen. Die anderen waren dabei, einige Pfannkuchen und Brote an die Patagonier zu verteilen. Im Nu waren diese Köstlichkeiten aufgegessen. Man fing an, Tauschgeschäfte zu tätigen. Jetzt erwies sich, dass man die billige Ware, von der die Eingeborenen begeistert waren, gegen wertvolle Lamafelle eintauschen konnte.
Commerson hielt sich wie gewöhnlich unter Vorgabe seines immer schmerzenden Beines zurück, setzte sich ein wenig abseits vom Geschehen auf einen Stein und wartete ab. Während die anderen ein wenig zwischen den Felsen herumsuchten, trug Jeanne nicht nur die Pflanzenpresse, Schachteln für die Lagerung der Pflanzen, einen Kescher zum Fangen von Käfern und Insekten, sondern sie scheute sich auch nicht, weit in die Felsen zu steigen, um an besonders auffälliges Material zu gelangen. Dabei war sie sich der Tatsache bewusst, dass man sie von den Schiffen aus beobachtete.
Dort machten sich die Matrosen gegenseitig aufmerksam auf die eifrige Gestalt in den Felsen, die trotz der Kälte und allem, was sie schultern musste, nicht nachließ in ihren Bemühungen.
„Guckt euch diesen Doktor an“, sagten sie, „der sitzt schon wieder ganz gemütlich da rum, während der Junge die ganze Arbeit macht. Was der alles trägt! Ist ein richtiger Lastesel!“ Begeistert griffen sie das Wort auf und sprachen fortan von Commersons Lastesel, wenn sie Jeanne meinten. Selbst Vivès konnte sich nicht enthalten, anerkennend zu äußern: „Das muss man ihr lassen, sie erstaunt einen mit dieser Schufterei.“ Umso mehr natürlich als er in ihr trotz allem die Frau sah, die sie so dringend zu verbergen suchte.
16.
Als sie wieder an Bord waren und die reiche Ausbeute an Pflanzen ordneten, sagte Jeanne zu Commerson: „Haben Sie gesehen, Monsieur, wie dieser Eingeborene einem der Offiziere, die uns beim Sammeln geholfen haben, ansprach, um ihm sein entzündetes Auge zu zeigen?“ Sie hatte sich auf der ganzen Fahrt angewöhnt, Commerson auf diese Weise ehrerbietig anzusprechen, damit sie sich nicht versehentlich eine Vertraulichkeit erlaubte, die verhängnisvoll hätte werden können. Die extreme Situation während des Sturmes vor der Südküste Amerikas war eine Ausnahme, die zwar in jenem Moment verzeihlich gewesen war, sich aber dennoch auf keinen Fall wiederholen durfte.
„Gewiss“, antwortete Commerson. „Die Eingeborenen scheinen sehr wohl begriffen zu haben, warum wir die Pflanzen sammeln. Und es war geradezu rührend, mit welchem Eifer sie uns dabei geholfen haben.“ Denn sobald die kleine Gruppe sich aufgemacht hatte, die Vegetation am Strand und an der Küste zu untersuchen, kamen einige neugierige Patagonier, um zu sehen, was sie da machten. Und als sie es begriffen hatten, brachten sie ihrerseits noch mehr von den Pflanzen, die die Fremden interessierten. Und dann eben hatte einer von ihnen auf sein entzündetes Auge gewiesen.
„Sie haben offensichtlich erwartet, dass wir Heilkräuter sammeln!“ bemerkte Jeanne jetzt. „Und das ist interessant, weil sie wahrscheinlich einige der Wirkungen ihrer Pflanzen als Heilmittel kennen. Vielleicht gibt es auch Menschen unter ihnen, die dieses Wissen haben und so etwas wie Ärzte sind.“
„Medizinmänner, ja“, entgegnete Commerson. „Ärzte wohl nicht, denn sie werden nicht studieren können in dieser abgelegenen Gegend der Welt. Aber ja, so wie du durch Erfahrung und das Teilen deiner Erfahrung mit anderen Frauen deiner Art, so wie ihr Euch ein Wissen angeeignet habt, das uns Ärzten so nützlich ist, so passiert das wohl auch hier am äußersten Zipfel der Erde.“ Er sagte es ohne jegliche Herablassung. Jeanne war ihm immer eine große Hilfe gewesen. Es gab keinen Grund, sich ihr in dieser Hinsicht überlegen zu fühlen.
„Ich glaube nicht“, sagte Jeanne, „dass sie darüber hinaus verstehen, was wir tun. Dass wir die Pflanzen auch mitnehmen, um sie kennenzulernen, einzuordnen und bekanntzumachen. Ich denke, solche Überlegungen sind ihnen doch bestimmt fremd?“
„Das nehme ich auch an.“
Sie sichteten ihre Ausbeute. „Nun, haben wir etwas, womit wir Monsieur Vivès befrieden können, was glaubst du?“
Sie hatten tatsächlich ein kriechendes Gewächs mit eiförmigen Blättern und blauen Beeren gefunden. Die Eingeborenen hatten die Beeren gegessen, sie schienen nicht giftig zu sein. Entfernt erinnerten diese Beeren an eine Pflanze, die Jeanne aus Frankreich kannte und die sogar von Linnaeus bereits veröffentlicht worden war, wie aus Commersons Unterlagen ersichtlich wurde: Der Stinkwacholder (juniperus sabina). Dessen Beeren waren allerdings wie die gesamte Pflanze giftig und auf jeden Fall ungenießbar. Außerdem hatte er unter Frauen einen zweifelhaften Ruf mit einer vielfach herbeigesehnten Wirkung. Denn man setzte es mit einigem Erfolg bei Abtreibungsversuchen ein. Ein Sud aus den Blättern und Wurzeln sollte auch bei Entzündungen hemmend wirken. Der Stinkwacholder hatte allerdings lange, spitze, nadelförmige Blätter, was ihn von dem hier gefundenen Strauch deutlich unterschied. Aber die Beeren waren durchaus vergleichbar. Und da sie nicht giftig schienen, konnte man ohne großen Schaden versuchen, eine Substanz zu gewinnen, die vielleicht die Probleme der Matrosen lindern könnte. Zumindest würde es nicht schaden.
Mit dieser Einschätzung stimmte Commerson sofort überein. Sie heckselten die Blätter klein und kochten einen Tee daraus. Sie pressten den Saft aus den Beeren, der eine tief bläulich-rote Farbe aufwies. Beide Flüssigkeiten füllten sie in Fläschchen ab, und als Vivès nach einigen Tagen über den Kapitän anfragen ließ, ob die wissenschaftliche Untersuchung des Herrn Botanikers für seine Männer Früchte getragen habe, konnte Commerson mit einiger Zuversicht auf die „entwickelten Tinkturen“ verweisen.
Jeanne sagte: „Wir haben aber doch keine Ahnung, Monsieur, ob das wirklich irgendeine medizinische Wirkung hat, man wird Sie der Scharlatanerie anklagen. Monsieur Vivès ist Ihnen nicht wohlgesonnen, und er wird jede Gelegenheit ergreifen, Sie des Misserfolgs anzuprangern. Haben Sie gar keine Bedenken?“
Commerson, der an seinem Arbeitstisch saß und gerade mit großer Freude eine jener wunderschönen gelben Blüten betrachtete, die sie in großer Zahl an den Ufern des Meeres gefunden hatten, legte seine Augengläser beiseite und schaute Jeanne mit einem listigen Glimmern in den Augen an.
„Mein lieber Jean“, sagte er mit Betonung. „Nein, ich habe keine Angst vor Monsieur Vivès. Er ist ein aufbrausender, missgünstiger Dummkopf. Er ist neidisch und gemein. Aber vor allem ist er auch auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Es wird keinen Misserfolg geben, weil Monsieur Vivès das nicht zulassen wird.“
Jeanne blickte ihn ungläubig an. „Und dann, musst du wissen, ist jedes Mittel bei einer solchen Krankheit wie ein Strohhalm. Die Männer wollen geheilt werden und deswegen glauben sie daran, dass diese Tinkturen ihnen helfen werden. Und soll ich dir was sagen: bei manchen wirkt das tatsächlich. Sie werden gesund, warum auch immer. Bei anderen nützt es natürlich nichts. Aber die führen das nicht auf die fehlende Wirkung des Heilmittels zurück, sondern auf sich selbst. Bei anderen hat es ja gewirkt oder scheint zu wirken. Bei ihnen nicht? Sie werden glauben, sie seien verflucht. Oder sie müssten mehr von dem Mittel nehmen. Sie werden zu uns kommen und um weitere Tinkturen bitten. Du wirst sehen. Und Vivès wird sie dabei unterstützen!“
Er sollte Recht behalten.
Es drängte Bougainville, weiter zu segeln. Eine zweite Enge musste passiert werden, breiter als die erste, aber durch Felsbrocken unterhalb der Wasseroberfläche vor Feuerland erheblich gefährlicher. Außerdem waren die Stromschnellen um die Isla Isabel sehr tückisch. Als sie die Durchfahrt endlich gemeistert hatten und die Straße sich wieder in südliche Richtung erweiterte, zog schlechtes Wetter auf. Bougainville entschloss sich, an einer günstigen Stelle vor Anker zu gehen. Durch tagelanges untätiges Warten verloren sie wiederum viel Zeit. Einzige Freude in dieser Langeweile boten die unglaublich zahlreichen Meerestiere, die zum Teil sehr nah an die Schiffe herankamen. Buckelwale, Delphine, Robben und viele Fische. Vor allem die Delphine, die in großer Zahl die Männer an Bord erfreuten, weil sie unglaublich muntere Sprünge veranstalteten, ließen Commersons Herz höherschlagen. Sie besaßen einen strahlend weißen Körper mit tief schwarzem Kopf und gleicher Schwanzflosse. Auch die Finne und Teile des Bauches waren schwarz. Diese klare Farbabgrenzung machte sie besonders attraktiv, und selbst bei schlechtem Wetter und düsterem Himmel leuchteten die Tiere bei ihrem munteren Treiben über den Wellen.
Commerson kannte Delphine aus eigener Anschauung im Mittelmeer. Auch hatte er Abbildungen bei Linnaeus gesehen. Diese hier schienen anders, die hatte noch nie jemand beschrieben. Sie waren unbekannt, unbenannt, und Commerson gab ihnen die selbstverherrlichende Bezeichnung: Cephalorhynchus commersonii, Commersons Delphine. Dem Kapitän, mit dem zusammen Commerson die Tiere eine Weile beobachtet hatte und der das Entzücken des Botanikers teilte, vertraute er sich an. Es sei eine neue Art von Delphinen, die er hier zum ersten Mal beobachtet und auch klassifiziert habe. Und es sei dann üblich, nach Regeln der Linnaeusschen Taxonomie einen Namen zu vergeben. Er habe sich erlaubt, seinen eigenen hierfür auszuwählen. La Giraudais verfügte wohl kaum über Kenntnisse der Linnaeusschen Taxonomie. Er hatte aber mitbekommen, dass der Botaniker die spektakuläre Blume, die er in Rio de Janeiro gefunden hatte, nach dem Kommandanten benannt hatte, was er für einen klugen und höflichen Schachzug hielt. Also schien es üblich, bei solch neuen Funden, vor allem wenn sie so auffällig waren wie diese Bougainvillea oder jetzt diese wunderschönen, exotischen Delphine, auch besondere Namen zu vergeben. Giraudais beglückwünschte Commerson zu diesem hochverdienten Lohn seiner Arbeit.
Jeanne hingegen äußerte sich nicht zu dieser Namensgebung. Natürlich war sie sich nicht wirklich sicher. Aber Commerson hatte ihr viel vom System diese Linnaeus erzählt, weil er stolz über die Zusammenarbeit war, die er vor Jahren für dessen Systema naturae geleistet hatte. Er sprach von der binären Nomenklatur, bei der jedes Lebewesen einen Artnamen bekommt, der sich aus dem Namen der Gattung (mit Großbuchstaben am Anfang) und einem Zusatz für die jeweilige Art (mit kleinem Anfangsbuchstaben) zusammensetzte. Dies war dann der zutreffende Artname. Viele Male hatte sie nach diesem System die lateinischen Bezeichnungen, die Commerson ihr diktiert hatte, aufgeschrieben. Jetzt, unterwegs, war das nur selten möglich, weil die Gattung nicht immer sicher bestimmt werden konnte. Vieles würden sie erst bei genauer Beschreibung und im sicheren Vergleich bewerkstelligen können. Eines aber hatte sie sehr wohl verstanden, dass nämlich der Zusatz, der sich auf Vielerlei beziehen konnte und tatsächlich auch von Orten abgeleitet wurde oder mit dem man einen besonderen Menschen ehrte, dass also dieser Name sich niemals auf die eigene Person des Bestimmenden beziehen durfte. Man ehrte ranghohe Männer, bekannte Wissenschaftler und durfte darauf hoffen, von diesen ebenfalls bei Gelegenheit beehrt zu werden. Sollte Commerson das etwa vergessen haben? Das war nicht gut möglich. Niemand von den Expeditionsteilnehmern würde diesen Fehler, diesen regelrechten faux pas erkennen, wenn sie überhaupt von der Namensgebung erfuhren. Aber Jeanne war bestürzt über Commersons Eitelkeit, passte sie doch zunehmend in das Bild von dem Mann, dessen Schwächen immer deutlicher zu Tage traten.
17.
Bougainville hielt diese lange Untätigkeit kaum aus. Er entschloss sich, Feuerland zu inspizieren. Wieder wurden zwei Beiboote ausgesandt, einerseits um auszukundschaften, ob und wo es weitere Möglichkeiten zur Ankerung gab und andererseits, um tatsächlich an Land zu gehen und zu sehen, was man dort vorfinden würde. Das Wetter verschlechterte sich, und in kürzester Zeit waren die Männer an Land vom Regen durchweicht. Es gab lichten, waldartigen Baumbestand, zu dem sie flüchteten, um dort zu versuchen, mit Zweigen und Ästen einen Unterstand zu bauen, wie man es in Patagonien bei den Eingeborenen gesehen hatte. Es war hoffnungslos. Niemand hatte Geschick für solche Dinge, am wenigsten die Offiziere. Jeanne, die unglücklicherweise mit von der Partie war, obwohl an das Sammeln von Pflanzen und Tieren bei dieser Witterung nicht im Geringsten zu denken war, wurde aufgefordert, möglichst viel schützendes Material herbeizuschaffen. Aber auch wenn sie trotz der Kälte, trotz der zermürbenden Nässe wie immer willens war, all ihre Kräfte einzusetzen, so blieb das alles eine erbärmliche Stümperei. So primitiv ihnen die „Wohnungen“ der Einheimischen, lächerliche, zeltartige Konstruktionen, auch vorgekommen waren, so musste man jetzt doch erkennen, dass die Patagonier den Fremden in dieser Hinsicht weitaus überlegen waren.
Inzwischen wurden die Verhältnisse unerträglich. Man beschloss, ein großes Feuer zu machen, um sich wenigstens ein bisschen zu erwärmen, und man holte das Segel eines der Beiboote, das als Schutz gegen den Regen helfen sollte. Es wurde eine fürchterliche, unvergessene Nacht, und als man am Morgen wagen konnte, die Beiboote zu betreten und zu den Fregatten zurück zu segeln, überwog bei allen das Gefühl einer Niederlage. Das eisige, unwirtliche Land hatte sie zurückgewiesen, hatte ihnen gezeigt, wie klein und ausgeliefert sie in dieser Gegend waren.
Aber Bougainville gab sich nicht geschlagen. Auch in den folgenden Tagen setzte er seine Erkundungsfahrten entlang der Küste Feuerlands fort. In einem besonderen Moment bemerkten sie Einheimische an Land, die verschiedentlich Feuer angezündet hatten, um die herum sie sich aufhielten. Es bot sich aber wegen des schlechten Wetters keine Gelegenheit, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Stattdessen führten die weiteren Aufklärungsfahrten zur Entdeckung verschiedener Buchten, die sich als günstige Ankerplätze erwiesen, und schließlich wählte man eine zum Schutz gegen die zunehmend risikoreiche stürmische See aus. Wochen sollten vergehen, in denen man versuchte, anhand von Strömungen und regelmäßigen Bewegungen des Wassers nach Ebbe und Flut zu verstehen, wie man möglichst unbeschadet die Reise fortsetzen könne. Es galt, eine die Untiefen und gefährlichen Klippen umfahrende Passage herauszufinden, die hinaus in die Weite des Pazifiks führte. Aber die ständig gegenläufigen Wellenbewegungen ließen keine eindeutige Systematik zur Bestimmung einer sicheren Route erkennen.
Eines Tages näherten sich vier kleine Boote der Boudeuse. Es waren einfache Piroggen, Einbäume, mit Baumrinde und Moos mehr schlecht als recht dichtgemacht. Die Eingeborenen zögerten, näher zu kommen, bis sich schließlich ein Boot nahe an die Fregatte heranwagte und der Mann deutliche Zeichen machte, an Bord kommen zu wollen. Außer ihm saßen noch eine Frau und zwei Kinder in der Pirogge. Aber nur der Mann kam an Bord. Bougainville wusste von früheren Fahrten, die die Franzosen in diese Gegend unternommen hatten, dass die Feuerländer auf die gleiche Weise wie die Patagonier durch Rufen immer desselben Wortes ihre Friedfertigkeit zum Ausdruck brachten. „Pècherais! Pècherais!“ Lautete hier das Zauberwort, nach dem Bougainville dann auch diese Wilden benannte. Nachdem der erste von ihnen freundlich von den Franzosen empfangen worden war, trauten sich auch die anderen Männer und brachten sogar ihre Kinder mit. Man gab ihnen zu essen, und sie verschlangen alles mit großem Appetit. Sie lachten und sangen und fingen an zu tanzen. Zuerst schien das in Ordnung, doch dann wären Bougainville und seine Männer die ungebetenen Gäste gern wieder los geworden. Aber diese dachten gar nicht daran, von Bord zu gehen. Erst nachdem man in jedes Boot ein großes Stück gesalzenes Fleisch als Köder gelegt hatte, waren sie bereit, die Boudeuse wieder zu verlassen.
Bougainville war angewidert. Auch die Patagonier waren einfache Wilde, aber es kam ihm so vor, als seien sie sehr viel zivilisierter als dieses barbarische Volk. In sein Tagebuch schrieb er voller Abscheu: Die Menschen sind klein und hässlich, und sie stinken fürchterlich. Sie sind vollkommen nackt und tragen lediglich eine knappe Bedeckung aus der Haut des Seewolfes. Sie haben auch einige, aber wenige, ebenfalls sehr kleine Lamafelle. Die Frauen sind geradezu abscheulich anzusehen, und die Männer scheinen sich nicht viel aus ihnen zu machen. Die Frauen verrichten offensichtlich alle Arbeit. Sie rudern die Boote, sie schöpfen Wasser, wenn diese undicht werden. Sie sammeln das Holz für die Feuer, die ständig erhalten werden müssen. Was ihre einfachen Hütten anbetrifft, so scheint keine Ordnung vorzuherrschen, Männer, Frauen, Kinder alle leben durcheinander. Sie ernähren sich vielfach von Muscheln, die sie mit ihren Zähnen knacken. Diese sind in auffällig schlechtem Zustand.
Am meisten gab Bougainville zu denken, dass diese Wilden sich über gar nichts zu wundern schienen. Alles, was sie auf der Boudeuse sahen, angefangen von einfachen Gerätschaften wie Teller, Kannen, Becher bis hin zur komplizierten Ausstattung des Schiffes, nahmen sie völlig ungerührt hin, ohne zu staunen oder zu hinterfragen.
„Alles scheint für sie so selbstverständlich wie Wind, Wetter, Regen oder Schnee zu sein“, sagte Bougainville zu Monsieur Véron, dem Astronomen, der seit Wochen keines seiner Geräte sinnvoll einsetzen konnte und den Kommandanten auf seinen Erkundungsausflügen begleitet hatte, so dass sie sich freundschaftlich nahegekommen waren. „Man hat nicht das Gefühl, dass sie nachdenken.“ Bougainville hörte sich tatsächlich „nachdenken“ sagen.
„Glauben Sie, dass diese Wilden überhaupt denken können?“ fragte Véron, dem sehr unwohl war bei der Bemerkung.
„Ich würde etwas darum geben, mein lieber Véron, wenn ich diese Frage beantworten könnte. Die Patagonier, fanden Sie nicht auch, dass die einen ganz anderen Eindruck, nun, von Menschsein vermittelten? Denken Sie nur daran, wie sie mit einem Lendenschurz ihre Blößen bedecken, oder dass ihre Umhänge aus ausreichend Fellen bestehen, um den gesamten Körper zu verhüllen. Und wie aufmerksam sie unseren Männern beim Sammeln der Pflanzen behilflich waren. Und dann sehen Sie sich diese ungeschlachten, ungehobelten Wesen an, die keinerlei Ehrgeiz haben, ihren zugegebenermaßen von der Natur sehr benachteiligten Zustand zu verbessern.“
Véron stimmte ihm zu, gab aber zu bedenken, dass Verbesserungen mangels passender Gelegenheiten vielleicht gar nicht möglich seien.
„Denken Sie an die Lamafelle. Ich frage mich, ob es in diesem unwirtlichen Land überhaupt ausreichend Guanakos gibt.“
„Es ist jedenfalls eine sehr bedauernswerte Population. Darauf können wir uns sicher einigen“, erwiderte Bougainville.
Jahre später, als er mit Diderot über den glücklichen Naturzustand der guten Wilden von Tahiti gesprochen hatte, sollte er sich an die Pècherais von Feuerland erinnern, aber es schien ihm damals nicht opportun, sie als Gegenbeweis für Diderots These anzuführen.
Noch einmal, bevor die Schiffe endgültig Feuerland den Rücken kehrten, hatten die Männer der Boudeuse Kontakt zu den Pècherais. Vorausgegangen war ein neuerlicher Besuch einiger der Eingeborenen mit ihren Kindern an Bord und dann der Gegenbesuch am Ufer der Insel. Es war Bougainville daran gelegen, einen guten, das heißt friedliebenden Eindruck zu hinterlassen, nicht nur, weil die Pècherais ebenfalls durchaus wohl gesonnen schienen, sondern auch, um möglichen nachfolgenden Seeleuten den Kontakt zu erleichtern. Alles verlief zunächst problemlos. Wieder wurde gesungen, gelacht und getanzt, was die Franzosen durchaus in Erstaunen versetzte, weil man den auf den ersten Blick eher ernsten Wilden solche Ausgelassenheit kaum zugetraut hätte.
Dann spuckte ein etwa zwölfjähriger Knabe plötzlich Blut. Niemand konnte sich erklären, was geschah. Da der Junge zu denen gehörte, die zuvor auf der Étoile gewesen waren, richtete sich der Zorn der Eingeborenen sofort gegen die Fremden. Ein Magier mit auffälliger Körperbemalung, offensichtlich als Heiler und Zauberer eine Autorität, bemächtigte sich des Jungen, legte ihn auf den Rücken und drückte ihm unter ohrenbetäubendem Geschrei immer wieder heftig auf Brust und Bauch. Mit den Händen vor dem Mund des Jungen, einen offenbar unsichtbaren bösen Geist erhaschend, schleuderte er diesen unter bizarren Luftsprüngen nach oben, um sogleich seine entsetzliche Behandlung fortzusetzen. Monsieur de la Porte, Arzt auf der Boudeuse, wurde gerufen. Nur mit größter Mühe konnte er die Einheimischen davon überzeugen, dem Kind ein bisschen Milch und etwas Kräutertee einzuflößen und ihnen klar machen, dass damit kein Übel angerichtet würde. Nachdem der Vater die Milch gekostet hatte, erlaubte er dem Arzt schließlich seine fürsorgliche Behandlung, dem Geschrei des Medizinmannes zum Trotz. Daraufhin unterließ es der Magier, den Jungen weiter zu malträtieren, so dass sich dieser vorerst beruhigen konnte.
Die Franzosen kehrten auf ihre Schiffe zurück. Des Rätsels Lösung war wohl, dass man dem Jungen auf der Étoile eine Glasscherbe geschenkt hatte, die sich der Junge vermutlich in den Hals gesteckt hatte, wie sich die Pècherais - aus Aberglauben - etwa weißen Talkum in Nasenlöcher und auch in die Kehle steckten, um sich vor bösen Geistern zu schützen. Es stand zu befürchten, dass er dabei einen Teil davon verschluckt hatte. Am nächsten Tag schien sich diese Vermutung zu bewahrheiten. Man hörte auf den Schiffen von Land her lautes Wehklagen, sah die Pècherais wild durcheinanderlaufen und dann in großer Hast davoneilen. Bougainville war sofort klar, dass sie den Ort, an dem die fremden Teufel einem der Ihren den Tod gebracht hatten, verlassen mussten und wohl auch in aller Zukunft meiden würden.
18.
Das Wetter blieb schlecht. Es war nebelig, es regnete, es wurde kälter und begann zu schneien. Der Wind kam aus allen Richtungen, und es war schwer, gegen die Strömungen anzusegeln. Schließlich sah sich Bougainville gezwungen, vor dem Festland zu ankern, weil sich die Boudeuse nur noch schwerfällig bewegen ließ und vermutlich irgendeinen Schaden am Rumpf genommen hatte. Man suchte eine geschützte Bucht bei der Halbinsel, die den südlichsten amerikanischen Punkt ausmachte. Auch die Étoile musste dringend überholt werden. Da es bei der Witterung unmöglich war, unter Wasser zu arbeiteten, entschloss man sich, die Ladung weitestgehend an Land zu bringen, um den Rumpf des Schiffes so weit aus dem Wasser heben und auf den Sand ziehen zu können, dass es möglich wurde, das alte Leck am hinteren Teil auszubessern. Erst als sich nach zwei Tagen plötzlich das Wetter besserte, sah man in weiter Ferne die mächtigen, schneebedeckten Gipfel einer Gebirgskette unter einem nahezu wolkenlosen, blauen Himmel. Das Ufer war teils sandig, teils steinig, dahinter fand sich eine grüne Matte aus Gras und Flechten mit wenigen, windzerzausten Bäumen.
Es war das erste Mal seit Tagen, dass die Offiziere beider Schiffe, und auch Commerson und Jeanne, an Land gingen, ohne durch und durch nass zu werden. Während die Mannschaft unter Aufsicht der Kapitäne die Schiffe ausbesserten und vor allem die Boudeuse von den hinderlichen Ablagerungen befreite, andere die Ladung vor den neugierig herbei geeilten Patagoniern schützten, gruppierten sich Offiziere und Wissenschaftler in Gesprächsrunden, denen man die schiere Erleichterung dieser willkommenen Unterbrechung tagelanger Trostlosigkeit deutlich anmerkte. Jeanne, mit den üblichen Notwendigkeiten für die Botanisierung bepackt, hielt sich etwas abseits, während Commerson mit dem Astronomen sprach. Seit ihrer merkwürdigen Verabschiedung, als Véron auf die Boudeuse umgezogen war, hatten sie tatsächlich keine Gelegenheit mehr gehabt, mit einander zu plaudern. Véron sah verschiedentlich zu Jeanne hinüber, so als wolle er ihren Blick auffangen, aber sie tat, als merke sie es nicht.
Plötzlich gab es Bewegung am Strand. Einem der Beiboote der Boudeuse entstieg eine Gestalt, deren leuchtend violetter Samtanzug und schneeweiße Perücke den Träger wie einen Paradiesvogel aussehen ließ. Alle Blicke wendeten sich ihm zu. Jeanne traute ihren Augen nicht. Der Prinz von Nassau-Siegen hatte während der gesamten, nunmehr über ein Jahr dauernden Tour nicht einen einzigen Tag darauf verzichtet, sich zu kleiden und auszustaffieren, als würde der König höchstpersönlich ihn in Versailles erwarten. Er trug eine knielange Samthose mit zugehöriger Weste, am vorderen Teil reich mit Goldstickereien versehen. Dazu eine Jacke mit langen hinteren Schößen und Ärmelaufschlägen, die in gleicher Weise verziert waren. Das weiße Hemd hatte vorne eine üppige Faltenrüsche. Seine gepuderte Perücke war zu den Seiten sorgfältig aufgedreht mit einigen am Kopf anliegenden Locken in parallelen Reihen. Die weißen Strümpfe hoben sich von dem farbigen Samtoutfit leuchtend ab. Seine Schuhe, aus feinem Ledermaterial, wiesen die hohen Absätze der Aristokraten auf. Etwas unsicher, wie er sich verhalten, wem er sich anschließen sollte, da alle beschäftigt schienen, entschied der Prinz sich für Véron und Commerson. Er kam nur langsam vorwärts, weil ihn seine Schuhe auf dem unebenen Gelände durchaus behinderten, und er auf jeden Fall die Lächerlichkeit eines Sturzes vermeiden wollte. Die Herren Offiziere, die auf der Boudeuse reisten, waren lange an den sonderbaren Anblick des Prinzen gewöhnt und beachteten ihn nicht weiter. Jeanne sah ihn mit wachsendem Staunen auf ihre Gruppe zukommen, während Commerson dem Prinzen freudig entgegenging.
Der Anblick dieser ungewöhnlichen Person, die sich so sehr von allen übrigen Männern der französischen Schiffe unterschied, zog die Eingeborenen, deren Interesse sich bisher weitgehend auf die am Strand gelagerten Güter richtete, in ihren Bann. Sechs Männer folgten der humpelnden Gestalt und umringten sie, noch ehe der Prinz bei Commerson angelangt war. Sie schnatterten aufgeregt und zeigten mit den Fingern auf die Haare, die Schuhe, die Beine. Und dann wagte einer, den Samt des Anzugs anzufassen. Neuerliches aufgeregtes Geschrei. Dann griffen alle sechs zu und fassten den Prinzen an. Seine Kleidung, seine Arme, versuchten seine Brust zu fühlen und gingen ihm zwischen die Beine. Der arme Prinz verlor sichtlich die Fassung und rief laut um Hilfe. Die Matrosen, die den Überfall mitbekommen hatten, wollten sich ausschütten vor Lachen, aber die Offiziere, die einige Sekunden vor Schreck gezögert hatten, fassten sich und eilten herbei, um den Armen zu retten. Die Patagonier wichen zurück, wobei sie freundlich lachten. Dabei machten sie obszöne Bewegungen die keinen Zweifel daran ließen, dass sie den Prinzen für eine Frau hielten. Er war in seinen Grundfesten erschüttert. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, ihm seine Männlichkeit abzusprechen, die er ja geradezu im Übermaß unter Beweis gestellt hatte. War es doch genau das, seine vielfältigen Liebschaften, die ihn verleitet hatten, zu viel Geld für Frauen auszugeben, was den Anlass zu dieser Reise gegeben hatte. Es war unfassbar.
Um sich zu beruhigen und von dem misslichen Vorfall abzulenken, bot er Commerson seine Hilfe beim Botanisieren an, und der nahm auch hocherfreut an. Sie gingen ein Stück weg vom Landeplatz der Schiffe, dann schlug Commerson vor, sich auf einen höher gelegenen Stein zu setzen, indem er darauf hinwies, dass sie beide, der Prinz wegen seines Schuhwerks und er, Commerson, wegen seines Beines, eigentlich nicht in der Lage waren, sehr viele weitere Erkundigungen zu Fuß einzuholen. Véron hatte die Herren ein Stück begleitet, und als diese sich nun niederließen, zögerte er einen Moment und ging dann hinter dem Burschen her.
Jeanne kletterte frohgemut die Klippen hoch. Es gab eine unübersehbare Fülle von Wildblumen in allen Farben. Denn trotz des bisher weitgehend kalten und schlechten Wetters war doch hier unten immer noch Sommer, und so blühte in der kurzen Vegetationsperiode wirklich alles. Oben auf der Klippe konnte man weite Teile der Küste überblicken, und da tat sich ein Anblick auf, der ihr den Atem nahm: eine riesige Anzahl großer, geradezu massiger Tiere, die neben- und übereinander lagerten, bis zum Ende des Horizontes. Das waren Seeelefanten, die Jeanne an große Robben erinnerten, nur hatten sie im Vergleich zu diesen ein merkwürdig vergrößertes Maul. Es gab tausende von ihnen. Noch ehe sie sich fassen konnte und umdrehen wollte, um Commerson darauf hinzuweisen, war Véron zu ihr aufgeschlossen und stieß einen Laut des Staunens und Entzückens aus.
„Monsieur Baret, sehen Sie nur! Wie ist das möglich! Niemals habe ich eine solche Menge von Exemplaren dieser Größe gesehen. Das ist unglaublich!“ Und Jeanne lachte, und da sie ihr Gepäck auf den Boden gelegt hatte, klatschte sie vor Begeisterung in die Hände.
„Wir müssen es Monsieur de Commerson sagen!“ rief sie aus. „Er wird staunen, wenn wir ihm das zeigen.“ Véron ging ihn holen. Sowohl der Botaniker, als auch der Prinz hatten Mühe, die kleine Steigung zu überwinden. Aber dann waren auch sie hingerissen von diesem ungewöhnlichen Anblick. Ein wundervoller Tag!
Während Commerson und der Prinz sich wieder in ihr Gespräch vertieften, begleitete Véron Jeanne jetzt wie selbstverständlich beim Sammeln der Kräuter und anderen Pflanzen. Es gab hier viele unterschiedliche Sorten, von denen manche an bekannte Blumen erinnerten, wie man sie aus den Alpen kannte. Daneben fanden sie einen ihnen völlig unbekannten gelben Pilz, der an Baumstämmen wuchs. Als sie diesen Commerson bringen wollten, zeigte einer der Eingeborenen darauf und bedeutete ihnen, dass die Pilze genießbar waren und von ihnen gerne gegessen würden.
Mit reichhaltiger Ausbeute kehrten sie am Ende des Tages auf die Schiffe zurück. Véron sagte: „Nun habe ich heute sehr viel von Ihnen lernen dürfen, Monsieur Baret. Würden Sie mir erlauben, Sie auch weiterhin zu begleiten?“ Und Jeanne, die bisher voller Eifer und ohne die geringste Verlegenheit mit dem Astronomen gesprochen hatte, wurde wieder schüchtern bei seinen Worten und nickte kaum merklich, bevor sie ihre Schachteln in das Beiboot der Étoile lud.
Man blieb einige Tage an derselben Stelle, stets begleitete der Prinz Commerson.
Nachdem Jeanne die beiden an einem ruhigen Platz zurückgelassen hatte, trat Véron wie von ungefähr zu ihr hin und begleitete sie. Sie entdeckten eine weitere Tierkolonie: Pinguine. Diese nach Magellan benannten Pinguine besaßen eine weiße, oben und zu den Seiten mit einem schwarzen Streifen abgeteilte Brust. Darüber gab es einen weiteren weißen, dann wieder schwarzen Streifen, der in den schwarzen Rücken überging.
„Sehen Sie nur“, bemerkte Jeanne zu Véron, „ihre Federn scheinen irgendwie flauschig, nicht so glatt wie bei anderen Arten.“ Es gab den Tieren ein liebenswürdiges Aussehen. Aber liebenswürdig waren sie ganz und gar nicht. Da die Tiere brüteten, waren sie sogar ziemlich aggressiv.
„Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, Monsieur Baret“, sagte Véron einmal, „aber es macht mich ungeheuer froh, mit Ihnen durch diese Natur zu gehen.“ Und Jeanne antwortete: „Ja, die Natur ist ein Geschenk. Man muss einfach froh werden bei ihrem Anblick.“
Diese wenigen Tage, in denen sie das ruhige Wetter genießen konnten und die Schönheit der Landschaft mit den hohen, vielfach gezackten und immer mit Schnee bedeckten Bergen, gingen allzu schnell vorbei. Bougainville drängte auf die baldige Weiterfahrt. Schon während man die Schiffe wieder belud, verschlechterte sich das Wetter. Es hieß wiederum, Abschied zu nehmen. Véron sagte nicht viel, aber der Prinz neigte bei dieser Gelegenheit sein Haupt gegen Jeanne und bemerkte: „Ich bewundere dein Geschick und deine Ausdauer, mein lieber Junge.“ Und zu Commerson gewendet: „Ich kann Sie zu diesem Burschen nur beglückwünschen, lieber Commerson. Sind Sie nicht auch meiner Meinung, Monsieur Véron?“ Véron beeilte sich, dem Prinzen beizupflichten, und Commerson nahm das Kompliment hin, als sei er selber wegen seiner Tüchtigkeit belobigt worden.
Véron kehrte mit gemischten Gefühlen auf die Boudeuse zurück. Er verstand nicht, warum er so häufig und mit solcher geheimen Freude an den Burschen von Monsieur de Commerson denken musste.
Als man schon wieder unterwegs war in eine ungewisse, nicht enden wollende Suche nach der richtigen Durchfahrt, sagte Bougainville einmal zu dem Prinzen, er bedaure den Vorfall, bei dem er Opfer des Angriffs dieser Eingeborenen geworden sei. Der Prinz winkte ab. Da sei ja nun gar nichts geschehen. Man müsse es diesen primitiven Menschen, die ja alles in allem nicht feindselig gestimmt seien, schon nachsehen, wenn sie mit den für sie so neuartigen Gepflogenheiten einer fremden Gesellschaft nicht umgehen könnten. Dann fügte er nachdenklich hinzu: „Ich frage mich allerdings, was geschehen wäre, wenn sie tatsächlich eine Frau vorgefunden hätten.“ Bougainville zog es vor, in dieser heiklen Angelegenheit weiter nichts mehr hinzuzufügen.
Es dauerte tatsächlich noch mehr als drei Wochen, in denen es nicht aufhörte zu regnen und zu stürmen, immer wieder Beiboote zu Erkundungsfahrten ausgesandt wurden, die ohne gute Neuigkeiten zurückkehrten, bis sie endlich, endlich, den freien Zugang zum südlichen Meer gefunden hatten. „Wir brauchten 52 Tage für die Durchfahrt“, schrieb Bougainville in sein Logbuch (Zum Vergleich: Magellan brauchte bei der ersten Durchfahrt 38 Tage).
19.
Niemand hatte sich vorstellen können, wie weit und unendlich dieser Ozean sein würde. Auch war keiner von all den Männern jemals in diesen Gewässern gesegelt. Was den Atlantik anging, so wusste man, und viele hatten es bereits aus eigener Anschauung erfahren, dass auf der anderen Seite Amerika lag. Man wollte auf dieser Reise zunächst nach Rio de Janeiro gelangen, und man kam in Rio de Janeiro an. Was den Pazifik anging wusste man aus Berichten anderer Seefahrer, dass man irgendwie nach China gelangen konnte und dass auch die von den Holländern besetzten Gewürzinseln von hier aus zu erreichen waren. Dahinter dann würde Afrika liegen und man konnte um das Kap der Guten Hoffnung herum den Kreis schließen und wieder nach Hause zurücksegeln. Auch sollte es den südlichen Kontinent geben, von dem viele Seefahrer vermuteten, dass er hier im südlichen Meer zu finden sei. Aber es blieben so viele Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, alle Angaben über in diesem Meer befindliche Inseln blieben vage. Sie segelten ins Ungewisse. Der Kommandant allein, der seine Anweisungen gab, mochte vielleicht wissen, wohin er wollte. Aber Bougainville wurde von keinem anderen Impuls geleitete, als dem der Hoffnung, dass sich irgendetwas zu seinen Gunsten wenden würde.
Neun lange Wochen lang geschah nichts. Man segelte nach Norden und Nord-Westen, die Temperaturen stiegen an, und es wurde wieder angenehm warm. Das Wetter blieb ruhig mit einem leichten Wind, der ihre Richtung unterstützte. Man sah nichts als die ständige Bewegung einer unabsehbaren Fülle von Wellen, immer gleich und ewig anders.
Jeanne und Commerson hatten zu tun. Die erstaunlich vielfältige Vegetation der eisigen Küsten der Magellanstraße, sowie die Menge an Steinen, Muscheln und anderen geologischen Funden musste sorgfältig bezeichnet und der genaue Fundort notiert werden, damit Geologen und andere Naturwissenschaftler zu Hause daraus ihre korrekten Schlüsse ziehen konnten. Pflanzen wurden zum Trocknen an die Kajütendecke gehängt, getrocknete Blätter und Blüten säuberlich auf Herbariumpapier eingeordnet. Auch mussten alle Objekte immer wieder auf Schimmel- oder Parasitenbefall überprüft werden. So bemerkte Jeanne kaum, wie eintönig die Wochen für die Mannschaft in dieser grausamen Weite vergingen. Manchmal, wenn Commerson seinem besonderen Hobby nachging und Fische fing, sie ausnahm, um auch in dieser Hinsicht neue Erkenntnisse zu gewinnen, entfloh Jeanne für ein paar Stunden auf das Vorderdeck. Sie war zwar an Pflanzen gewöhnt, konnte auch Kleintiere sammeln und in Schachteln aufbewahren, aber das blutige Töten von Fischen, die mit der Zeit äußerst unangenehm zu riechen begannen, das war nicht in ihrem Sinne.
Ab und zu gesellten sich Pierre und Émile zu ihr und fragten sie nach ihrer Arbeit aus. Ob es angenehm sei, für Commerson zu arbeiten, wollten sie wissen, und wie es überhaupt dazu gekommen sei, dass ein Junge wie er so viel über Pflanzen wisse. Jeanne antwortete, er habe sich immer schon für die Vielfalt der Natur interessiert und eine Menge von seiner Mutter darüber gelernt. Als Monsieur de Commerson nun glücklicherweise einen Burschen gesucht habe, sei das ihm, Jean, sehr gelegen gekommen, da er sich andernfalls wie sein Vater als Tagelöhner hätte verdingen sollen. Für körperliche Arbeit sei er nicht wirklich geschaffen, wie sie ja selber leicht sehen könnten. Monsieur de Commerson wäre eine echte Chance für ihn gewesen.
„Also, ich muss sagen, wir haben dich unterschätzt, Jean. Anfangs dachten wir ja tatsächlich, du seist ein Hänfling. Aber wie du in dieser eisigen Umgebung für deinen Herrn geschuftet hast, Mann, alle Achtung, da hättest du es als Tagelöhner auf den Feldern von Burgund sicher leichter gehabt.“ Sie lachten gutmütig.
„Dafür ist die Auswertung jetzt nicht besonders anstrengend. Und sie macht mir viel Freude“, entgegnete sie.
Einmal hatte Émile sich eine Verletzung an der Hand zugezogen, die sich leicht entzündete. Er bat Jean, ihm zu helfen. Dabei ließ er offen, warum er sich damit nicht an den Schiffsarzt wandte. Jeanne versorgte die Wunde und hieß Émile, ein sauberes Tuch darüber zu legen. Sie wollte ihn nicht regelrecht verbinden, um nicht die Aufmerksamkeit von Vivès darauf zu lenken, der darin sicher einen Verrat an seinen eigenen Künsten gesehen hätte.
Ende März tauchte endlich Land vor ihnen auf. Bougainville glaubte zunächst zu träumen. Es schien sich um mehrere kleinere und eine große Insel zu handeln. Diese wurde beherrscht von einem einzigen, kegelartigen Berg, offensichtlich einem Vulkan. Was man sehen konnte, war einfach atemberaubend: glasklares, türkisfarbenes Wasser, am Ufer schwarzer Sand in einer malerischen flachen Bucht. Dahinter Bäume und üppige Vegetation in leuchtenden, glänzenden Grüntönen. Bougainville beobachtete, wie die Wellen sich vor dem Land brachen und vermutete, dass man hier mit Korallenriffen rechnen musste, was die Annäherung der Schiffe an Land äußerst gefährlich machte. Er entschloss sich, die Inseln in einigem Abstand zu umsegeln und schickte Beiboote aus, die die Riffe untersuchen und einen möglichen Ankerplatz finden sollten. Endlich fand sich eine Öffnung zwischen den Riffen, die es den Schiffen erlaubte, in eine geeignete Bucht zu segeln und dort die Anker zu werfen. Ganz wohl war Bougainville bei diesem Manöver nicht, denn der Platz war eng, die Schiffe hielten sich recht nah beieinander, und der einzige Durchgang gab dem Ganzen etwas von einer Mausefalle, die bei ungünstigen Windverhältnissen auch leicht zuschnappen konnte.
Hatten sie je gezögert, ob der Entschluss, sich auf diese nicht ganz ungefährliche Weise der Insel zu nähern, richtig war, so wurden sie unmittelbar von solchen Sorgen abgelenkt durch das freundliche Willkommen, das ihnen die Bewohner dieses Eilandes boten. Bougainville hatte die halbnackten Männer, die sich am Strand versammelten, als sich die Schiffe näherten, genau beobachtet und hatte keinerlei Anzeichen einer feindlichen Gesinnung bemerkt. Jetzt kamen sie in ihren einfachen Booten dicht an die Schiffe heran und boten den Fremden Stauden von Bananen, Kokosnüsse und sogar ein quiekendes Ferkel an. Man holte alles mit Hilfe von Seilen, die man herab warf, auf die Schiffe und revanchierte sich mit Mützen und Taschentüchern, die man hinabwarf. Als es dunkel wurde, entfernten sich die Boote. Über Nacht blieb alles ruhig. Am nächsten Morgen tauchten wieder zahlreiche Boote auf, diesmal waren Frauen unter den Einheimischen. Sie waren ebenfalls nackt bis auf einen Lendenschurz. Um den Hals hatten sie Girlanden aus großen, farbenprächtigen Blüten, die ihre Brüste nur unvollständig bedeckten. An den Ohren trugen sie weitere große Blüten. Nachdem die üblichen Tauschgeschäfte abgewickelt waren, machten die Männer Zeichen, aus denen hervor ging, dass man die Frauen den Fremden sozusagen anbot. Es erhob sich ein ungeheures Geschrei und Gejohle unter den Matrosen.
Bougainville fürchtete, die Kontrolle über die Mannschaft zu verlieren. Es war ganz klar, dass man an Land gehen musste, um die Wasservorräte aufzufüllen. Auch brauchten sie dringend Holz, um auch in Zukunft Reparaturen an den Schiffen durchführen zu können. Die Eingeborenen hier schienen ihnen sehr wohlgesonnen zu sein. Wenn das ungewöhnliche Angebot, sich ihrer Frauen zu bedienen, wirklich so verstanden werden durfte und nicht etwa ein fatales Missverständnis war, wäre das für seine Männer ein ausgesprochener Glücksfall. Sie hatten seit Montevideo, und das war ein halbes Jahr her, keine Frau mehr gesehen. Die wenig erfreulichen Wilden, denen sie in der Magellanstraße begegnet waren, stellten selbst für die ausgehungerten Seeleute keine besondere Attraktion dar. Bougainville musste aber sicher gehen, dass alles nach Regeln ablief und niemand ausfällig wurde. Die Regeln würden, was die Frauen anging, von den Einheimischen aufgestellt werden. Bougainville redete zu seinen Männern. Er instruierte La Giraudais, in derselben Weise zu den Matrosen der Étoile zu sprechen.
Es würde eine erste Abordnung mit Kommandant Bougainville und Kapitän Giraudais, den Offizieren, einigen weiteren Herren, darunter der Prinz von Nassau-Siegen, sowie Commerson ohne Baret, und einige Seeleute zunächst an Land gehen, um die Lage zu sondieren. Wenn alles zur Zufriedenheit vorbereitet wäre, würde man versuchen, ein Lager einzurichten, um Wasservorräte aufzufüllen und Holz zu schlagen. Auch wollte man die Kranken an Land schaffen, um ihnen eine Ruhepause zu gönnen, denn nicht wenige waren vom Skorbut befallen. Nach und nach würden dann weitere Männer an Land kommen und man würde sehen, wie sich die Dinge entwickelten. Niemand durfte sich, bei strenger Strafe, allein und gegen das Gebot des Kommandanten auf eigene Faust unter die Eingeborenen mischen. Jedweder Konflikt sei zu vermeiden.
20.
In seinen kühnsten Träumen hätte Bougainville sich das nicht ausmalen können. Der Empfang an Land war ebenso freundlich, wie die Haltung der Männer in ihren kleinen Booten es schon vermuten ließ. Man tauschte wiederum Geschenke aus und einer, den Bougainville für eine Art Häuptling hielt und den sie Ereti nannten, lud sie in seine Hütte und zum Essen ein. Dann führte Ereti Bougainville zu einer weiteren Hütte und zu einem Mann mit schlohweißem Haar und Bart, zu dem er ehrerbietig sprach. Der Greis beeindruckte Bougainville durch seine Größe und gerade Haltung. Auch er war nicht unfreundlich, aber weit davon entfernt, Eretis Begeisterung über die Ankunft der Fremden zu teilen. Bougainville spürte deutliche Zurückhaltung und eine Skepsis in dem Gebaren des Alten.
„Ich vermute, Monsieur Véron“, sagte er später zu dem Astronomen, „er macht sich Sorgen. Ich glaube, ich verstehe das. Seine Leute sehen nur den Moment, das Jetzt und Hier. Wir bringen ihnen Abwechslung. Wir bringen ihnen Dinge, die sie nicht kennen, das erfreut sie. Aber dieser Alte, der denkt weiter, so meine ich. Wissen Sie, Véron, ich habe die Vermutung, dass wir nicht die ersten Fremden auf dieser Insel sind (Tatsächlich war der Engländer Samuel Wallis im Juli 1767 auf Tahiti gelandet. Er nannte die Insel zu Ehren seines Königs: King George’s Island). Denken Sie nur, wie begierig sie nach allen Metallen sind, die sie offensichtlich nicht auf ihrer Insel finden. Gleichwohl wussten sie sofort, von welchem Nutzen Eisennägel sind. Die Eingeborenen kannten sie bereits. Irgendjemand vor uns muss sie ihnen gezeigt haben. Und sehen Sie, Véron, nach uns werden andere kommen. Es wird sein wie am Rio de la Plata oder auf den Gewürzinseln. Fremde kommen und machen sich die Ureinwohner untertan. Dieser Mann ahnt das. Er kann in die Zukunft sehen, Véron.“
Und da der Empfang so überaus liebenswürdig sich entwickelte und man die einladende Geste der Männer, was ihre Frauen betraf, keineswegs missverstanden hatte, so dachte Bougainville, würden sich diese Menschen umso weniger gegen die fremden Eindringlinge zur Wehr setzen können.
Die Franzosen glaubten sich ins Paradies versetzt. Es ging allerdings nicht ganz ohne gewisse missverständliche Vorfälle ab. Simon, der Koch der Boudeuse, hatte sich gleich am ersten Tag, als alle noch unter dem strengen Befehl Bougainvilles standen, sich keinerlei Eskapaden hinzugeben, mit einer Schönen, die ihn zu verlocken schien, in die Büsche geschlagen. Plötzlich sah er sich umringt von einer Gruppe von Einheimischen, die ihn ergriffen, ihn nackt auszogen, seine Taschen untersuchten, ihn am ganzen Körper befühlten, so dass er in seiner Not zu schreien anfing, weil er glaubte, ermordet oder noch schlimmer, von diesen Wilden vergewaltigt zu werden. Dann ließ man ihn los, gab ihm seine Kleider und den Inhalt seiner Taschen zurück und führte ihn zu der Schönen, die lächelnd zugeschaut hatte. Immer noch voller Schrecken wusste er nicht, was nun geschehen sollte oder was man von ihm erwartete. Alle schienen heiter und nickten ihm aufmunternd zu. Und als auch die Frau sich ihm jetzt näherte, war klar, dass man von ihm erwartete, zu tun, weswegen er in diese Büsche gekommen war. Simon erstarrte. Er war unfähig, sich zu rühren. Einen Augenblick standen alle erwartungsvoll um ihn und die Frau herum. Als aber einer vortrat, um ihn am Arm zu berühren und in Richtung auf die junge Frau zu schubsen, nahm er all seinen Mut zusammen, durchbrach ihre Reihen und stürmte davon.
Bougainville wollte ihn zur Rede stellen, aber der Koch stammelte unverständliches Zeug, kehrte auf die Boudeuse zurück und blieb für den Rest der Zeit auf dem Schiff.
Man begann, in der Nähe eines kleinen Flusses ein Lager einzurichten, brachte einige Kranke an Land und wollte durch Pfähle eine Art Abgrenzung schaffen. Es war das erste Mal, dass die Eingeborenen eine gewisse Irritation zeigten. Ereti kam mit einigen anderen Männern, die eine Art Gemeinderat bildeten. Er gab Bougainville zu verstehen, dass man wissen wolle, ob die Fremden wohl auf Dauer bleiben wollten. Bougainville verneinte. Er deutete auf die Fässer hin, die mit Wasser gefüllt werden sollten, er verwies auf die Kranken, die ihre Erschöpfung auskurieren sollten und zeigte auf Bäume, deren Holz sie für den Schiffbau verwenden wollten. Wie lange sie zu bleiben gedächten? Bougainville zählte 18 Muscheln auf den Sand. Es gab eine heftige Diskussion, und einer der Männer nahm neun Muscheln wieder weg, um zu zeigen, dass man ihnen nur neun Tage zugestehen wollte. Bougainville blieb hart. Er würde all die Arbeit nicht in so kurzer Zeit schaffen. Schließlich gewährte man ihnen die gewünschte Zeit.
Wieder schien alles in bester Ordnung. Ereti führte sie in einen großen, hallenartigen Unterschlupf, den sie für sich verwenden sollten, und wieder lud er die Gäste zum Essen ein. Diesmal blieb er mit einigen seiner Stammesbrüder im Lager der Fremden. Nach dem Essen schickte er nach einer seiner Frauen, die er im Zelt des Prinzen schlafen ließ.
„Sie glauben es nicht, Monsieur Véron, der arme Prinz hat sich nicht gerührt. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Aber diese Frau war wirklich alt. Und sehr hässlich.“
„Warum hat man das dem Prinzen angetan?“
„Ich glaube nicht, dass man ihm etwas antun wollte. Im Gegenteil. Ich glaube, sie haben begriffen, dass der Prinz eine gewisse Sonderstellung einnimmt und dass man ihm deswegen eine besondere Ehre zuteilwerden lassen wollte.“
„Eine Ehre? Mit einer alten, hässlichen Frau? Ich verstehe nicht, Kommandant…“
„Nun, ich bin der Meinung, dass diese Frau ebenfalls eine ehrenvolle Stellung in ihrer Gesellschaft hat. Vielleicht ist sie die Mutter von Ereti. Ja, ich glaube, so etwas in der Art muss es gewesen sein.“
Der Prinz war der einzige, dem das lockere Verhalten der Insulaner nicht wirklich geheuer war. Auch als er an einem anderen Tag unvermittelt aufgefordert wurde, mit einer jungen Frau zu schlafen, wies er das Ansinnen entschieden zurück. Er hatte seine Prinzipien. Er war es gewohnt, seine Geliebten zu verführen und zu erobern, nicht sie auf einem Silbertablett präsentiert zu bekommen. Als die Frau dann auch noch strahlend auf ihn zukam, um sich an seinem Samtanzug zu schaffen zu machen, blieb dem Armen zur Erheiterung der umstehenden Offiziere kein anderer Ausweg als die Flucht.
Anders der Rest der Besatzung. Einige Tage lang herrschte überall eitel Sonnenschein. Auch Bougainville erlag den Versuchungen, die an ihn herangetragen wurden. In sein Logbuch schrieb er und später ausführlich in der Beschreibung seiner Weltumseglung, dass diese Insel, die die Eingeborenen Tahiti nannten, die Insel der Liebe sei. La Nouvelle Cythère, nannte er sie, das neue Kythera. Jean-Antoine Watteau hatte es auf einem prachtvollen Gemälde, das Bougainville in Paris gesehen hatte, festgehalten: eine junge höfische Gesellschaft, die sich einschiffte auf die Insel der Liebe, wo Venus aus dem Meer gestiegen war. Eine Gesellschaft ohne Sorgen und nur mit dem einen Ziel, sich der Liebe hinzugeben. So kam ihm Tahiti vor. Eine Insel, auf der es alles gab, was der Mensch brauchte: eine unglaublich angenehme Temperatur, frisches Wasser, genügend zu Essen, Schweine, Fische, Geflügel, Früchte aller Art. Eine Insel auch, auf der es keine Gefahr zu geben schien, keine wilden oder sonst gefährlichen Tiere, nicht einmal die zu Hause im Sommer oft lästigen, stechenden Insekten gab es hier. Die Menschen brauchten sich um nichts zu sorgen, hatten keinerlei Mühe, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es gab genug von allem für alle. Und so konnte man sich dem widmen, was das Leben noch angenehmer machte, der Liebe. Bougainville verstand nicht, wieso die Tahitianer ihre Frauen den Fremden anboten. Es stimmte schon, sie schienen kein Eigentum zu kennen. Vielleicht auch keine Eifersucht? Alles schien allen zu gehören, niemand versteckte etwas, verschloss es vor den anderen. Das mochte auch der Grund dafür sein, dass sie sich ungefragt Dinge nahmen, die den Fremden gehörten.
Schon beim allerersten Essen bei Ereti hatte es allerdings einen Zwischenfall gegeben, der vermuten ließ, dass sie sehr wohl ein Gespür dafür hatten, was sie tun durften und was nicht. Der Chevalier de Suzannet aus der Begleitung der Boudeuse stellte fest, dass man ihm seine Pistole entwendet hatte. Man suchte herum, fand aber nichts. Ereti bestrafte sogar zwei Personen, allerdings mit einigen lasch ausgeführten Stockschlägen. Bougainville beeilte sich, klar zu machen, dass man den Schuldigen gar nicht bestrafen wollte, sondern dass man eher fürchtete, er könne, weil er gar nicht wusste, wie man die Pistole bediente, sich oder andere damit verletzten.
Am nächsten Tag war Ereti an Bord der Boudeuse gekommen, hatte ein Schwein und Hühner gebracht und die Pistole.
Es gab weitere Vorfälle. Matrosen, denen ebenfalls etwas entwendet worden war, empörten sich über diesen frechen Diebstahl. Es gab sogar Tote unter den Eingeborenen. Niemand wusste genau, was geschehen war. Bougainville ließ vier Männer, die er zum Schutz des Lagers sozusagen zu Soldaten ernannt hatte, in Ketten legen, um die Insulaner zu beruhigen. Das war schon kurz bevor man die Insel verlassen wollte.
Auch später, als er längst wieder in Frankreich war und von Aotourou mehr über sein Volk gelernt und längst aufgehört hatte, an den Idealzustand dieses Naturvolkes zu glauben, wie ihn Diderot in seinem Supplément so vehement vertrat, war Bougainville doch immer noch entzückt von dem, was ihm auf der Insel, in diesem Garten Eden, mit den wunderschönen Frauen widerfahren war.
21.
Erst am zweiten Tag ihres Aufenthaltes vor Tahiti waren auch Jeanne und Commerson an Land gegangen, und beide hatten sich in der üppigen Pflanzenwelt ebenfalls wie im Paradies gefühlt. Neben der Ausbeute an unbekannten Blumen lag dem Botaniker vor allem daran, Kräuter zu finden, die vielleicht etwas gegen den Skorbut ausrichten konnten, wobei diese Suche einem Stochern im Dunklen glich. Immerhin wurde die Nahrung durch die vielen Früchte jetzt deutlich ausgeglichener, und das schien allen gut zu bekommen. Insbesondere einen Baum nahm Commerson ins Visier, der riesige, eiförmige Früchte trug, groß wie Kürbisse. Die dienten offensichtlich als eine Art Grundnahrungsmittel. Man verabreichte sie den Kranken und lud eine Anzahl auf die Schiffe. Da die Bäume geradezu überladen waren von den Früchten, überlegten Commerson und Bougainville, ob man hieraus nicht für Frankreich Kapital schlagen konnte. Es war zu beobachten, wie haltbar die Früchte beim Transport wären. Commerson studierte die verschiedenen Blütenstände, die an den Bäumen gleichzeitig mit den Früchten zu finden waren. Jeanne und er sammelten Setzlinge, um später zu sehen, ob der Baum in anderen Gegenden heimisch werden könnte.
Der Tag verlief wunderbar. Jeanne war in ihrem Element. Dass sie die ganze Zeit umringt waren von Einheimischen, die sie mit neugierigen Augen bei ihrem Tun beobachteten, aber sie keineswegs störten, war ihr nicht unangenehm. In einem bestimmen Moment lud man sie und Commerson ein, sich zu einer Gruppe von Frauen ins Gras zu setzen. Man aß ein paar Früchte, dann kamen einige Männer. Sie sangen und die Frauen tanzten einen wiegenden Tanz. Ein Mann spielte dazu auf einer Flöte, in die er zu Jeannes Freude die Töne mit der Nase blies. Jeanne war glücklich. Es entging ihr nicht, dass Commerson mehr als begeistert von der Gesellschaft schien. Trunken von all dem Übermaß an Freude und Zufriedenheit, kehrten sie auf die Étoile zurück.
Schon am nächsten Tag änderte sich die Stimmung, und Jeanne verstand erst nicht, was geschah. Sie waren mit einigen der Offiziere an Land gekommen, und Commerson unterhielt sich sehr lebhaft mit ihnen. Jeanne glaubte zunächst, er werde, nachdem er die Gespräche zu Ende geführt hatte, zu ihr zurückkehren, um sich neuerlich ihrer Arbeit zu widmen. Er kam auch, während die anderen Herren sich nach und nach in verschiedene Richtungen in der Landschaft verloren. Jeanne hielt an einem Bach an, um in dem glasklaren Wasser nach Fischen oder anderem Getier zu schauen und zu prüfen, welche besonderen Pflanzen, sich an den Uferrändern ausbreiteten. Sie vertiefte sich in den Anblick dieses idyllischen Fleckchens Erde und merkte so eine Weile gar nicht, dass Commerson, der doch gerade noch bei ihr war, plötzlich verschwunden schien. Als sie sich aufgerichtet und nach ihm geschaut hatte und ihn nicht mehr sah, dachte sie zunächst, er habe vielleicht eine Besonderheit entdeckt, die ihn aufhielt oder er sei einem Tier nachgefolgt. Sie ließ ihre Augen schweifen. Es gab eine Gruppe von Bäumen, die sich bald zu einer Art Wald verdichteten. Vielleicht war er dorthin gegangen. Aber er tauchte nicht mehr auf.
Jeanne begann, sich unwohl zu fühlen. Sie sah auch keine Eingeborenen, die doch sonst so zahlreich um sie herumliefen, hatte aber das Gefühl, dass sie beobachtet würde. Sie zwang sich dazu, weiter zu botanisieren, aber als Commerson nicht wiederkam, fehlte ihr die Ruhe. Ganz allein fühlte sie sich unbehaglich, und so kehrte sie zum Landungsplatz zurück. Hier waren wieder Menschen. Die Matrosen, die mit der Errichtung des Lagers beschäftigt waren, die Einheimischen, die ihnen dabei halfen. Als sie so unvermittelt allein auftauchte, zog sie manchen Seitenblick der Männer auf sich. Unschlüssig, was sie tun sollte, ob sie auf Commerson warten oder ohne ihn auf das Schiff zurückkehren solle, setzte sie sich zunächst ein bisschen abseits von der allgemeinen Geschäftigkeit unter einen Baum, um abzuwarten.
Sie wachte davon auf, wie jemand kleine Steinchen nach ihr warf. Zu Tode erschrocken setzte sie sich mit einem Ruck auf. Vor ihr im Sand saßen drei Frauen, die kichernd mit den Steinchen geworfen hatten, um sie aufzuwecken. Voller Entsetzen sah Jeanne in die freundlichen Gesichter. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können. Sie spürte ihr Herz bis in ihren Kopf pochen. Die Frauen schienen sich über ihre Reaktion zu freuen, lachten, redeten, zeigten auf ihre Schachteln und die Presse und den Korb mit Proviant, den sie immer dabeihatte. Langsam fasste sie sich und erwiderte schüchtern die Freundlichkeit der Frauen mit einem Lächeln. Aber sie verstand nicht, was diese von ihr wollten und fürchtete, man möge sie überreden wollen, sich mit einer der Schönen zurückzuziehen. Sie verspürte eine leichte Panik, obwohl die Frauen keinerlei Anstalten machten, sich ihr zu nähern.
Plötzlich wurde ihr auch klar, was mit Commerson war und wieso der verschwunden blieb. Auch die anderen Herren waren ja nicht wieder aufgetaucht. Natürlich konnten sie sich auf der Insel umschauen. Jeanne hatte gehört, wie der Kommandant und Giraudais davon sprachen, dass man die Insel über weite Strecken an einem Tag erkunden könne. Aber das Interesse der Männer würde wohl eher nicht von der Landschaft in Anspruch genommen worden sein. Jeanne fasste einen Entschluss. Sie nahm ihr Gepäck wieder auf und wandte sich dem Anlegeplatz der Boote zu. Sie würde auf die Étoile zurückkehren, jetzt, ohne auf Commerson zu warten. Unter weiterem Lachen und Geplapper begleiteten die drei Mädchen Jeanne zum Boot.
Unten am Strand stand Monsieur Véron, der ihr, als er sie kommen sah, entgegenging und sie ansprach. „Ich sehe, Sie genießen ebenfalls die Freundlichkeit unserer Gastgeberinnen, Monsieur Baret.“
Er schien es nicht böse oder gar zweideutig zu meinen, so gut glaubte Jeanne den Astronomen inzwischen zu kennen. Dennoch wurde sie rot. Sie brachte sich dazu, einigermaßen ungezwungen zu antworten: „Die Damen sind sehr reizend, in der Tat. Leider verstehe ich nicht, was sie mir sagen wollen. Aber ja, sie sind sehr freundlich und heiter.“
Es entstand ein kleiner Moment, in dem keiner von beiden recht wusste, was er sagen sollte. Véron scheute sich, nach Commerson zu fragen, der ja so offensichtlich nicht bei seinem Diener war. Und Jeanne biss sich auf die Lippen, um nicht aus Höflichkeit nach Monsieur Vérons Erfahrungen mit den Eingeborenen zu fragen.
„Waren Sie mit der Sammlung ihrer Pflanzen erfolgreich?“ fragte Véron schließlich.
„Gestern, ja, sehr“, antwortete Jeanne und fügte dann hinzu, „aber heute hat es nicht wirklich geklappt. Manchmal findet man nichts Interessantes. Diesmal scheint es sich nicht zu lohnen.“
Véron dachte, dass das auf einer solch blühenden Insel eher merkwürdig sei, aber er sagte nichts dergleichen. Irgendetwas schien Monsieur Baret zu bedrücken, und er konnte sich denken, womit das zusammenhing.
„Darf ich Ihnen beim Einladen Ihrer Schachteln behilflich sein?“ fragte er stattdessen, und Jeanne nickte erfreut. Nicht, dass sie seine Hilfe wirklich nötig gehabt hätte, hier war alles so viel einfacher und leichter als im rauen Klima der Magellanstraße. Aber es tat gut, wie Véron sich um sie kümmerte.
Die kichernden Mädchen hatten sich zurückgezogen und beobachteten die beiden aus einer gewissen Entfernung.
„Haben die Frauen Sie belästigt?“ fragte Véron jetzt.
„Belästigt?“ fragte Jeanne erschrocken zurück.
„Oh, Entschuldigung, Monsieur Baret! Wie gefühllos von mir, bitte verzeihen Sie! Ich meinte nicht, ich meinte…“ Er verhaspelte sich.
Schnell sagte Jeanne: „Sie haben beobachtet, dass ich eingeschlafen bin und waren so freundlich, mich aufzuwecken, und dann sind sie mit mir zum Boot gekommen. Nein. Belästigt haben sie mich nicht.“ Véron hatte sich inzwischen gefasst.
„Ich weiß auch nicht, warum ich das gefragt habe, Monsieur Baret. Diese Einheimischen sind wirklich ganz reizend. Mir selber allerdings scheinen sie durchaus etwas zu freundlich, bisweilen. Ich finde, sie halten nicht genügend Abstand, wissen Sie, was ich meine? Für mein Empfinden. Aber das ist sicher sehr ungerecht.“
Jeanne dachte: er also nicht, und dann fragte sie, erstaunt über ihren eigenen Mut: „Hat man Sie denn belästigt, Monsieur Véron?“
Véron sah sie mit offenem Mund an. Dann lachten sie beide. Es war ein fröhliches, befreiendes Lachen, und wieder fühlte Véron einen leisen Schmerz in der Brust, weil er sich zu diesem Jungen so hingezogen fühlte und seine Empfindungen nicht einordnen konnte. Schnell stieg Jeanne ins Boot und verabschiedete sich.
„Ich hoffe, wir haben bald wieder die Gelegenheit, mit einander zu plaudern!“ rief er ihr hinterher. Aber dazu kam es nicht mehr.
Jeanne blieb für den Rest der Zeit an Bord. Commerson und die anderen Herren verließen dagegen jeden Morgen das Schiff, um abends hochgemut zurückzukehren. Kein einziges Mal forderte Commerson sie auf, mitzukommen. So sehr hatte sich ihr Verhältnis in all den Monaten verändert. Commerson war nicht mehr Philibert. Mit diesem Mann jetzt verband sie nicht viel mehr als tatsächlich das Verhältnis von Gehilfen zu Lehrmeister oder von Diener zu seinem Herrn, wie die anderen es sahen, dachte sie trotzig. Dabei war ihr bewusst, dass Commerson, egal wie überlegen er auch immer tun mochte – und natürlich war er der Wissenschaftler und deswegen gebührte ihm auch die Anerkennung, die Bougainville, Giraudais und die anderen ihm zollten –, dieser Mann ohne ihre Hilfe nur halb so erfolgreich wäre. Sie sammelte die Pflanzen, sie brachte Ordnung in seine Herbarien. Er war so nachlässig und wohlgefällig – ohne ihr diszipliniertes Vorgehen wäre längst das größte Durcheinander in all dem wertvollen Material entstanden. Dass er sich jetzt mit den Schönen Tahitis vergnügte, versetzte ihr immer noch einen Stich. Aber sie hatte bereits größere Enttäuschungen hinnehmen müssen. Was ihr jetzt die Kraft zum Weitermachen gab, war ihre Arbeit.
An einem der nächsten Tage geschah es, dass Jeanne auf dem Zwischendeck mit Pierre und Émile und einigen wenigen anderen Matrosen stand, als ein Eingeborener auf die Étoile kam und zu verstehen gab, dass er alles sehen wollte, das ganze Schiff. Im Zwischendeck traf er auf eine Gruppe Männer, begrüßte sie freudig, und als er Jeanne sah, deutet er auf sie und sagte: „Mahu“. Mehrere Male. „Mahu!“ Die Männer fingen an zu lachen, und Vivès, der ebenfalls anwesend war, schrie: „Da habt ihr es, er sieht, dass sie eine Frau ist! Jeder, der seine Augen im Kopf hat, kann es sehen! Aber ihr lasst euch verschaukeln von den Herren Offizieren und Kommandanten! Ihr wollt das nicht sehen! Aber der hier, der Wilde, der hat es gleich begriffen. Einen guten Instinkt hat der, das sag ich euch!“
Jeanne, die bei dem Ausruf des Tahitianers erschrak, hatte sich bei den ersten Worten des Chirurgen auf dem Absatz umgedreht und war in ihrer Kajüte verschwunden. Der junge Insulaner verstand offensichtlich nicht, welche Aufregung er entfacht hatte. Er ließ sich durch das ganze Schiff führen und zollte allen Einzelheiten die größte Aufmerksamkeit. Obwohl er immer wieder Fragen zu stellen schien, konnte ihm niemand auf irgendetwas eine Antwort geben.
Noch am selben Abend meldete Vivès den Vorfall dem Kapitän. „Ich sage Ihnen, er hat diese liederliche Person als Frau entlarvt. Endlich ist alles klar“, sagte er aufgebracht. Giraudais bat ihn dringend, sich zu mäßigen. „Wiederholen Sie mir noch einmal das Wort, das er immer wieder gesagt hat und von dem sie völlig willkürlich annehmen, dass es die Bedeutung Frau hat.“ Und Vivès wiederholte es mehrmals: „Mahu. Mahu.“
Giraudais berichtete seinem Kommandanten, und Bougainville bat ihn um Diskretion. Gleichwohl schlug er vor, sich bei Ereti zu erkundigen, um die Bedeutung des Wortes vielleicht zu verstehen. Als sie Ereti um Aufklärung baten, schien der verwirrt, verstand offensichtlich nicht, was sie von ihm wollten. „Mahu?“ fragte er zurück und Giraudais, der es sozusagen von Vivès aus erster Hand hatte, bestätigte das Wort. Ereti schien ratlos. Dann hatte Bougainville einen Einfall. Er deutete auf eine hübsche junge Frau und sagte fragend: „Mahu?“ Ereti schien perplex, aber dann verstand er langsam. Er verzog das Gesicht, bedeutete den beiden Fremden, dass dieses Mädchen nicht „mahu“ sei. Wiegte seinen Kopf, lud die beiden ein, sich zu ihm zu setzen, schickte jemanden weg und bedeutete den beiden zu warten. Wieder wurde gegessen, und einige Frauen tanzten und sangen, um den Männern die Zeit zu vertreiben. Als der Bote wiederkam, geschah dies in Begleitung von vier schönen Frauen, die sich vor Bougainville und Giraudais aufbauten. Sie hatten die üblichen Girlanden, die ihre Brüste halb verdeckten, trugen einen langen, rockartigen Schurz aus dem für Tahiti so typischen Tapa-Stoff, den die Franzosen bereits bei allen Tauschgeschäften voller Interesse empfangen hatten, und ein Ohr war jeweils mit einer Blüte verziert. Die beiden Männer blickten einen Moment fragend auf die vier Frauen, bis Bougainville hörbar die Luft ausstieß und sagte: „Giraudais, sehen Sie, was ich sehe?“ Im selben Augenblick hatte Giraudais ebenfalls festgestellt, dass eines der Mädchen kein Mädchen war. Obwohl er gekleidet war, wie die anderen. Noch einmal fragte Bougainville: „Mahu?“ Und diesmal zeigte er auf den Mann unter den Frauen. „Mahu! Mahu!“. Alle schienen froh, dass man die Aufgabe gelöst und den Fremden geholfen hatte.
Bougainville und Giraudais vereinbarten, Vivès davon in Kenntnis zu setzen, dass man Wesen, die obwohl sie Männer waren aber nicht wie solche wirkten, sondern leicht weibische Züge hatten, auch auf Tahiti kannte, dass sie einen solchen „Mahu“ gesehen hatten und dass man diese Menschen in der Gesellschaft der Eingeborenen offensichtlich akzeptiere und sie sozusagen integriere. Der Kommandant verbot Vivès ausdrücklich, jemals wieder verleumderische Aussagen über Monsieur Baret zu verbreiten. Der sei durch seine Andersartigkeit und als Eunuch gestraft genug. Vivès biss die Zähne zusammen. Er schwor sich, dass es ihm eines Tages gelingen sollte, diesen Betrug aufzudecken. Für den Augenblick aber blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Befehl des Kommandanten zu beugen.
22.
Der Eingeborene hieß Aotourou, und er war gar nicht mehr von der Étoile weg zu bringen. Er suchte Jeannes Nähe, und es war deutlich, dass er gerne mit ihr zusammen war. Er wollte immerzu kommunizieren, versuchte mit ihr zu sprechen, wollte ein paar Worte Französisch lernen. Er war daran interessiert, die Bewegungen der Herren Offiziere oder des Kapitäns nachzuahmen. Als er verstand, dass die Herren bei ihren abendlichen Zusammenkünften mit dem Kapitän Perücken trugen, denn außer dem Prinzen verzichtete man allgemein darauf, dieses eher lästige Kleidungsstück während des Tages zu tragen, bat er Jeanne, seine Haare in solcher Weise zu kämmen. Sie hatte große Mühe ihm zu erklären, dass die Perücken künstlich waren und seine schönen, schweren glänzenden Haare sich niemals zu einer solchen kleinteiligen Spitzfindigkeit würden frisieren lassen. Sie lachten viel zusammen, und auch Giraudais, den Aotourou besonders gern nachahmte, freute sich über den Gast, der ihn grüßte, indem er dessen Geste spiegelverkehrt wiederholte. Es war klar, dass Aotourou sich nicht über sein Gegenüber lustig machen wollte, obwohl er immerzu lachte, sondern bemüht war, die Angewohnheiten der Fremden zu kopieren und sich anzueignen.
Bevor noch eine Woche zu Ende gegangen war, verschlechterte sich die allgemeine Stimmung zwischen den Eingeborenen und den Franzosen deutlich. Es kam zu dem erwähnten Vorfall, bei dem französische Matrosen mit den Insulanern in Streit gerieten und dies mit dem Tod dreier Eingeborener endete. Obwohl Bougainville sofort reagierte und die mutmaßlich Schuldigen gefangen nehmen ließ, um Ereti zu beruhigen, blieb die Angelegenheit mysteriös. Es war nicht zu klären, ob sich die Tahitianer tatsächlich eines Diebstahls schuldig gemacht oder die Eingeborenen die Franzosen anderweitig provoziert hatten, oder ob gar Frauengeschichten zum Streit Anlass gegeben hatten. Ereti, der Vermittler, schien sich von Bougainville beruhigen zu lassen, aber der Kommandant spürte sehr wohl, dass sich eine große Unruhe des gesamten Volkes bemächtigt zu haben schien.
Plötzlich gab es keine Helfer mehr am Lager, die Frauen hatten sich zurückgezogen, und dann stellte Bougainville fest, dass sich überhaupt niemand mehr in diesem Teil der Insel aufhielt. Gleichzeitig kamen Winde auf, die nicht ganz ungefährlich waren. Dass die Bucht, in der die beiden Schiffe ankerten, eher klein und zu einem großen Teil durch das gefährliche Korallenriff begrenzt war, erwies sich jetzt als Nachteil. Auch löste sich ein Anker der Boudeuse und brachte das Schiff in allzu große Nähe zur Étoile. Bougainville befürchtete, dass es noch in der Bucht zu einer Havarie kommen könnte und beschloss, früher als geplant aufzubrechen und die Étoile schon einmal vor zu schicken. Wegen der ungünstigen, widrigen Winde waren alle aufs Äußerste angespannt. Es gelang der Étoile erst nach mehrmaligen riskanten Versuchen, den schmalen Ausgang auf die offene See tatsächlich zu finden. Für einen Moment hatte Bougainville befürchtet, sie müssten für immer auf dieser Insel der Seligen bleiben, wenn die Schiffe in der kleinen Bucht tatsächlich zerschellten, aufs Riff aufliefen oder untergingen. Hätte das noch vor ein paar Tagen als eine traumhafte Möglichkeit seine Sinne beflügelt, so wusste er nun doch in diesem Augenblick des Schreckens, dass er das keineswegs mehr wünschen würde.
Jetzt, da die Étoile befreit war und eine Rückkehr nach Frankreich sicher schien, suchte Bougainville Ereti auf, machte ihm deutlich, dass auch er und sein Schiff aufbrechen würden und bat ihn, sein Volk mit den Fremden auszusöhnen. Ereti führte ihn in die Wälder, wo sich die Menschen an einem Platz versammelt hatten und mit anklagenden Gesten und Worten ihre Wut über die Tötung ihrer Landsleute Ausdruck verliehen. Es gelang jedoch dem Kommandanten, seine eigene Trauer und Bestürzung über das Geschehen deutlich zu machen. Es kam nach vielen Tränen und Bezeugungen der gegenseitigen Wertschätzung dann doch zur beiderseitigen Versöhnung. Man half wieder, die Boudeuse mit Wasser, Holz und anderen Vorräten zu beladen. Danach kam es dann zum Abschied. Ereti ließ sich ein letztes Mal zur Boudeuse bringen und vertraute Bougainville Aotourou an. Dieser hatte von Anfang an wissen lassen, dass er mit den Fremden mitreisen wollte, und jetzt nahmen die Insulaner von ihm Abschied. Bougainville beobachtete, wie Aotourou sich zu einer jungen Frau beugte und ihr drei Perlen aus seinem Ohr zum Abschied gab.
Der Kommandant versprach, den jungen Tahitianer unter seinen Schutz zu nehmen, ihm Frankreich zu zeigen und ihn nach Hause zurückzuschicken, wo er, so es in Gottes Willen stand, heil und gesund wieder ankommen sollte. Niemand konnte wissen, was geschehen würde. Im Verlaufe der Reise, die Aotourou tatsächlich nach Paris bringen sollte, erfuhr Bougainville mehr über dessen Volk, und der Anschein des harmonischen Miteinanders bekam einige Brüche. Nein, es war keineswegs so, wie Diderot es sich erträumt hatte, dass ein glückliches Naturvolk ohne sexuelle Beschränkungen in ewigem Frieden miteinander lebte, dass ihre Gesellschaft keine Ungleichheiten kannte, kein Eigentum, oder dass sie keine Kriege führten und ihnen das Töten fremd sei. All das konnte Aotourou widerlegen. Bougainville sollte seine Zuneigung zu dem Jungen lange bewahren.
Als sie in Frankreich angekommen waren, bewunderte er, wie Aotourou in dieser völlig anderen Welt zurechtkam, ohne je die Sprache zu erlernen. So machte er sich in der großen fremden Stadt Paris häufig allein auf seine Erkundungsgänge, die manchmal Stunden dauerten. Und niemals verlief er sich. Die verwöhnten Pariser mokierten sich darüber, dass dieser Wilde auch nach Monaten seines Aufenthaltes in ihrer Hauptstadt nicht verständlich Französisch sprach, während doch andere, europäische Ausländer dazu sehr wohl in der Lage seien. Bougainville hingegen war klar geworden, dass die eigene Sprache, mit der der Junge aufgewachsen war, eine völlig andere Struktur hatte und man nicht einfach Sachverhalte von einer in die andere übertragen konnte. Abgesehen davon, dass Aotourou unendlich viele Dinge in Paris sah, die es in Tahiti nicht geben konnte und er deswegen viele Worte lernen musste, für die es bei seinem Volk keine Entsprechung gab.
All das stand ihm bevor, als er Tahiti verließ. Er hatte keine Ahnung, welches Abenteuer er eingehen würde. Auch die Länge der Dauer dieser Reise dürfte ihm nicht klar gewesen sein. Bougainville lernte viel von Aotourou, und seiner Gesellschaft wurde er nie überdrüssig.
23.
Eine eigenartige Stimmung herrschte an Bord der Schiffe, als sie Tahiti hinter sich ließen. Einerseits bedauerten die Männer, eine Insel verlassen zu müssen, auf der es keinen Hunger und keinen Durst gab und wo Frauen ohne irgendwelche Hemmungen jedem zur Verfügung standen. Das war ein unglaublicher, tatsächlich paradiesischer Zustand, den manche gerne noch länger genossen hätten. Andere waren solcher Leichtigkeit schon nach der kurzen Woche überdrüssig. Schnell machte sich auch der Nachteil der sexuellen Freizügigkeit, die man genossen hatte, bemerkbar. Commerson war zum Kommandanten auf die Boudeuse beordert worden und musste auf offener See von der Étoile in ein Boot steigen, das ihn hinüberbrachte und auf der anderen Seite umständlich wieder an Bord klettern ließ. Angesichts der fieberhaften Krankheit Bougainvilles hielt er sich zurück und machte seinerseits keinerlei Bemerkungen über sein eigenes Unwohlsein. Mit einem ständig eiternden Bein waren solche körperlichen Anstrengungen nicht gerade angenehm. Der Arzt der Boudeuse, Monsieur de la Porte, hatte Commerson um Rat wegen eventueller Heilmittel kommen lassen. Eine Zusammenarbeit mit Vivès schien ihm dagegen offensichtlich weniger gedeihlich. Bougainville musste über Tage seine Kabine hüten.
Zur gleichen Zeit herrschte aber bei fast allen eine unterschwellige Euphorie, was die kommende Zeit anging. War man doch sicher, dass es auf die eine oder andere Weise so weiterginge; dass dieser einen Insel weitere, gleichartige folgen würden. Man würde reichlich Nahrung sowie frisches Wasser finden und wahrscheinlich auch weitere sinnliche Vergnügungen erwarten dürfen.
Bougainville segelte ungefähr auf demselben 15. Breitengrad, auf dem er auch auf Tahiti gestoßen war, weiter nach Westen. Weitere Inseln kamen schon sehr bald nach ihrem Aufbruch wieder in Sicht. Das schien die Erwartungen zu bestätigen. Und Bougainville sah keine Notwendigkeit, schon wieder einen Halt einzulegen. Etwa zwei Wochen lebte man noch aus der Fülle der Bordvorräte. Dann begann der Rest der Früchte zu verderben. Hühner und Schweine, die man geladen hatte, waren verzehrt, und bei dem heißen Klima begann das Wasser langsam faulig zu werden.
Im Mai schon wurde die Lage kritisch. Jetzt schien sich die unverhofft endlose Weite dieses Ozeans gegen sie verschworen zu haben. Weit und breit kein Land in Sicht. Die Mannschaft begann, den Hunger zu spüren. Der Koch der Boudeuse, jener Simon, den die Tahitianer so unsanft um sein Schäferstündchen gebracht hatten, kam als Erster auf die Idee. Er fing eine Ratte und setzte sie gebraten den Herren auf der Boudeuse vor. Während der Chevalier de Suzannet glaubte, sich übergeben zu müssen beim Anblick des ekeligen Tieres, beruhigte ihn der Prinz, der seine Haltung und seine gute Laune niemals zu verlieren schien. Er selber probierte ein Stück Rattenbraten, verzog genüsslich das Gesicht, so als habe er eine außerordentliche Köstlichkeit im Munde und riet den Herren, es ihm gleich zu tun, weil die Alternative tatsächlich den Hungertod bedeutete. Alle ließen sich überzeugen. Selbst Suzannet, der stattdessen zunächst auf einem Stück Leder kaute, um das Hungergefühl zu überlisten, ließ sich schließlich überreden, ein Stück Ratte zu probieren und musste dann zugeben, dass dies um Längen besser war als Leder.
Auf der Étoile tat man ein gleiches. Allerdings profitierten auch hier lediglich die Offiziere von solchen Maßnahmen, während die Mannschaft weiterhin eine karge Ration Schiffszwieback erhielt, der im Lauf der Zeit von Käfern befallen war. Auch Jeanne musste sich in die Schlange bei der Essensausgabe einreihen. Sie redete mit niemandem, hielt ihren Kopf und ihre Blicke immer auf den Boden gerichtet. Hatte sie doch ständig Angst, dass zunehmende Unzufriedenheit und Aggression sich unvermittelt gegen sie richten könnten. Commersons Pistole trug sie immer bei sich.
Am 22. Mai sichtete man Land und schickte zwei Boote mit 26 Personen, darunter der Prinz von Nassau-Siegen, an Land. Bougainville machte auf einer älteren Seekarte eine Inselgruppe aus (Heute: Neue Hebriden), die von den Portugiesen benannt worden war und glaubte, auf der größeren dieser Inseln, La Australia del Espiritu Santo, angekommen zu sein. Die Franzosen wurden bei ihrer Landung von hunderten von Einheimischen umringt. Der Prinz von Nassau, den man sogleich für eine wichtige Autoritätsperson hielt, trat in fürstlichem Gebaren auf die Wilden zu und streckte ihnen seine Hand entgegen. Einige Wagemutige traten vor und berührten ihn. Es gab einen Augenblick der Entspannung, und es gelang dem Prinzen, den Einwohnern das Verlangen nach etwas zu essen und nach Wasser deutlich zu machen, worauf man den Ankömmlingen einige Früchte brachte.
Unterdessen hatte der Kommandant sich entschlossen, sich der Vorhut ebenfalls anzuschließen. Er setzte außerdem seine Hoffnung auf Aotourou, von dem er glaubte, er könne sich womöglich mit den Einheimischen verständigen. Aber Aotourou kannte die Sprache der Melanesier nicht, und er war entsetzt über ihr kriegerisches Aussehen. So hatten sie sich Knochen durch die Nasenscheidewand gezogen, und ihre Körper waren von Unreinheiten und Geschwüren überzogen, die Bougainville an Leprakranke erinnerten.
Man war sehr unschlüssig, ob man sich ins Innere der Insel auf der Suche nach Wasser trauen sollte. Da gab jemand einen Warnschuss ab, weil sich sehr viele Männer um eines der Beiboote gescharrt hatten. Mit einem Schlag verschwanden alle Eingeborenen von der Bildfläche, und die Franzosen hielten es für angebracht, sich sofort auf ihre Boote und Schiffe zurückzuziehen. Noch ehe sie halbwegs dort angekommen waren, kehrten die Krieger zurück und schossen ihre Pfeile auf den Feind. Daraufhin ließ der Offizier, der das Beiboot der Étoile befehligte, die Menge der Melanesier beschießen. Unter dem Feuerschutz beider Fregatten erreichten die Franzosen ihre Schiffe unbeschadet und segelten los. Aus Furcht, die Eingeborenen könnten die Nachricht von der Flucht der Fremden auf den Nachbarinseln verbreiten, ließ man Tage vergehen, ehe man neuerlich daran dachte, an Land zu gehen. Und dann gab es kein Land mehr.
Am 5. Juni stießen sie auf ein riesiges Korallenriff (Great Barrier Reef im Osten Australiens). Gerade noch rechtzeitig konnte die Boudeuse die Étoile warnen. Hiervon hatte bisher niemand Kenntnis gegeben, und Bougainville dachte, wenn der große Kontinent, den man im Südpazifik vermutete, sich dahinter befände, würde man ihn niemals erreichen können. Sie segelten nach Norden. Nun verschlechterte sich das Wetter. Regengüsse der schlimmsten Art, sowie Nebel verhinderten selbst eine genaue Ortung der Schiffe untereinander. An eine Landung war nicht zu denken, zumal bei dem Wetter kaum die Inseln zu sehen waren. Etwas Gutes hatte dieses Wetter allerdings, denn man konnte Regenwasser zum Trinken und auch Waschen auffangen.
Die physischen Strapazen, die Jeanne in den zwei Monaten seit der Abkehr von Tahiti durchgemacht hatte, sind kaum zu beschreiben. Diese wurden verstärkt durch ihr seelisches Leid. Sie hatte keine Möglichkeit, mit irgendjemandem außer Commerson zu sprechen. Vor der Mannschaft hatte sie panische Angst, schon Vivès auch nur anzusehen, musste ihr klar machen, dass er ihr ärgster Feind war. Der Kapitän und die Offiziere beachteten sie nicht, und es war unmöglich, sie einfach anzusprechen. Lediglich Pierre und Émile verhielten sich nach wie vor neutral. Mit Commerson redete sie nur noch das Nötigste. Auf Tahiti nahm er ihr den letzten Rest einer Illusion, sie habe von diesem Mann noch irgendetwas an Mitgefühl und Unterstützung zu erwarten. Jetzt war sie dankbar für die leichte Linderung ihrer Leiden durch die Möglichkeit einer Säuberung mit frischem Regenwasser.
Aber es gab kein Ende der Misere. Die Schiffe segelten in der Nähe von Neuguinea, wo ungünstige Winde eine Landung unmöglich machten. Dann entschloss sich Bougainville zur Rückkehr. Sie segelten wieder nach Osten. In Sichtweite der Salomoninseln wurden sie durch die feindliche Haltung der dunkelhäutigen Einwohner abgeschreckt, deren zackig weiß bemalte Körper kriegerische Absichten vermuten ließen und die auch tatsächlich mit ihren Pfeilen am Ufer standen, um sie auf die Fremden abzuschießen, sobald diese in Reichweite kamen.
Erst im Juli 1768, drei entbehrungsreiche Monate nach Tahiti, sollten die Boudeuse und die Étoile auf einer kleinen, fruchtbaren Insel landen, die ein Engländer bereits ein Jahr zuvor entdeckt und benannt hatte: New Ireland.
24.
Die Erschöpfung hielt an. Die Männer legten sich teilweise einfach an den Strand um auszuruhen. Es gab beinahe alles auf dieser langgezogenen, sehr schmalen Insel: Wasser, Früchte, ein paar Vögel, aber scheinbar keine Einwohner. Bougainville vermutete, dass eine nahe gelegene, größere Insel bewohnt war und man sich keine Mühe machte, sich weiter um diesen Wurmfortsatz zu kümmern. Es wäre vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis man ihre Schiffe von dort aus wahrgenommen und dann Späher ausgesandt hätte. Dann hoffte Bougainville bereits wieder in See gestochen zu sein. Für den Augenblick tat die Ruhe gut.
Jeanne war in einem unbeschreiblichen Zustand. Sie ging an Land, mit und ohne Commerson. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Manchmal entfernte sie sich einfach von Commerson und den anderen Männern, suchte die Einsamkeit, setzte sich unter Bäume, machte die Augen zu für Momente, aber nicht für lange, aus Furcht, der Schlaf könne sie übermannen in dieser unaussprechlichen Erschöpfung. Gleichwohl gab es hier wundervolle Bäche, kleine Flüsse, in denen man baden, sich waschen konnte. Sie widerstand dieser einladenden Versuchung nicht. Sie glaubte, sich weit genug von allen entfernt zu haben. Das einzige Problem war die Pistole, die ihr bisher gute Dienste erwiesen, sie vor allen Angriffen beschützt hatte. Sie setzte sich an den Rand eines Baches. Hinter einem Busch schien sie vor unerwünschten Blicken geschützt. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und legte die Pistole unter den Busch. Seit Wochen hatte sie keinen klaren Gedanken mehr gefasst. Die Einordnung der Pflanzen war praktisch zum Erliegen gekommen. Auf Tahiti war sie nur an einem einzigen Tag zusammen mit Commerson wirklich erfolgreich gewesen, danach hatte sie darauf verzichtet, an Land zu gehen, weil Commerson andere Interessen über das Botanisieren stellte. Und danach, in diesen grässlichen drei Monaten, als sie andauernd glauben musste, zu verhungern oder zu verdursten, war ohnehin nicht mehr an eine konzentrierte Arbeit zu denken gewesen.
Wie sollte es weitergehen? Vielleicht konnten sie hier, nachdem man ein paar Tage ausgeruht hatte und zu Kräften gekommen wäre, das Sammeln von Pflanzen wieder aufnehmen. Ihr war klar, dass sie weiterhin auf Gedeih und Verderb an Commerson gebunden blieb. Was immer er für richtig hielt oder der Kommandant, der ihn bitten konnte, etwas zu tun oder zu lassen, würde auch ihr Schicksal mitbestimmen. Mit übergroßer Deutlichkeit verstand sie: der Philibert, für den sie das alles auf sich genommen hatte, existierte nicht mehr. Es gab viele enttäuschende Momente in diesen zurückliegenden anderthalb Jahren, die ihr andere Seiten aufgezeigt hatten, als die ehemals an ihm so geschätzten. Dass er feige war, was sie betraf, ängstlich darauf bedacht, nicht mit ihrem Betrug in Verbindung gebracht zu werden, obwohl doch er es war, der zuerst davon gesprochen hatte. Und obwohl jedem klar sein musste, dass dieser Betrug nur von ihnen beiden gemeinsam durchgeführt werden konnte. Vieles hatte sie ertragen, auch weil es ja gar nicht anders ging. Sie hatte längst begriffen, dass er in ihr nicht mehr die Frau sah, die er doch einmal geliebt hatte. Wenn das wirklich je der Fall gewesen war. Doch, dachte sie entschieden. Er hat mich geliebt. Wir haben uns geliebt. Jetzt aber sah sie ein, dass sie nur noch nützlich für ihn war, sein Lastesel eben. Oh ja, sie hatte das mitbekommen. War in dem Moment vielleicht sogar stolz gewesen, weil in diesem Wort doch auch eine gewisse Bewunderung ihrer Leistung und ihrer Fähigkeiten mitschwang. Aber dann waren sie nach Tahiti gekommen. Und Commerson hatte sie einmal mehr verraten. Sicher, alle waren sie den Versuchungen erlegen. Selbst der Kommandant. Vielleicht musste man das verstehen. Vielleicht musste man das hinnehmen. Kurz kam ihr Véron in den Sinn, der vielleicht als einziger sich nicht hatte verführen lassen. Indem Commerson sich vor ihren Augen mit diesen Frauen vergnügte, hatte er auch das letzte Band zerschnitten, das ihn mit Jeanne verband.
Sie merkte, wie ihr plötzlich die Tränen über das Gesicht liefen. Niemals, nicht in all den Monaten, in all den fürchterlichen Situationen, die sie durchlebte, hatte sie sich erlaubt, so schwach zu werden. Sie war der Überzeugung, dass man innere Stärke nur bewahren konnte, wenn man sich nicht nachgab. Weinen, das bedeutete letztlich Selbstmitleid. Selbstmitleid war der Anfang vom Ende. Und doch war es jetzt auch eine Erleichterung. Dieser eine friedliche Moment nach den angstvollen Hungermonaten brachte ihr eine so ungeahnte Erleichterung, dass sie einfach weinen musste. Da verstärkte sich eine schmerzende Gewissheit, diesen Weg, den sie nun einmal eingeschlagen hatte, auch bis zum Ende allein gehen zu müssen. Sie stellte sich mit den Füßen ins Wasser und schöpfte daraus, um ihr Gesicht zu waschen und zu kühlen. Und als sie die Geräusche hinter dem Busch hörte, war es bereits zu spät.
Einer hatte sich der Pistole bemächtigt, die er jetzt auf sie gerichtet hielt, während die anderen fünf zu ihr ins Wasser sprangen und sie ans Ufer zerrten. Sie rissen ihr das Hemd vom Leib, kreischten beim Anblick der mit Leinenstreifen umwickelten Brüste auf, zerrten ihr die langen Hosen vom Körper. Und dann stürzte sich der Erste auf sie und drang unter dem Gejohle der anderen in sie ein. Zwei hielten sie an den Armen fest, und als der Erste mit ihr fertig war, machte sich der zweite über sie her, dann der nächste. Bevor sie ohnmächtig wurde, meinte sie noch, das hämisch grinsende Gesicht dieses Vivès über sich zu erkennen.
Als Pierre und Émile sie fanden, war Jeanne immer noch ohne Bewusstsein. Vorsichtig versuchten beide, ihre Blößen zu bedecken. Pierre zog sein eigenes Hemd aus und Émile versuchte, Jeanne aufzurichten. Gemeinsam hüllten sie sie in das weite Männerhemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Sie tauchten das zerrissene Hemd von Jeanne in den Bach und rieben ihr vorsichtig das Gesicht ab. Jeanne öffnete die Augen und wollte schreien. Aber Pierre fasste sie an den Schultern. „Nicht schreien!“ bat er, „wir sind es doch, Pierre und Émile, wir tun dir nichts. Wir haben dich gefunden. Wir bringen dich aufs Schiff. Wer hat dir das angetan?!“ Jeanne brauchte einen Augenblick um zu begreifen, dass alles vorbei war, dass diese beiden nicht die Täter, sondern ihre Retter waren. Dann ließ sie den Kopf an Pierres Schulter sinken, während Émile sie immer noch von hinten stützte.
„Wer war das?“ fragte Pierre noch einmal eindringlich. Aber sie konnte ihm die Namen nicht nennen. Sie hatte die Vergewaltiger in ihrer rasenden Angst und weil es so viele waren, nicht einzeln wahrgenommen. Aber an das Gesicht von Vivès erinnerte sie sich. „Ich glaube, Vivès hat sie angestachelt“, war alles, was sie sagen konnte. Dann sank sie noch einmal in Ohnmacht.
Pierre und Émile brachten sie auf die Étoile und in Commersons Kajüte. In Windeseile hatte sich das Geschehen herumgesprochen.
„Ich habe es immer gesagt, sie ist eine Frau. Es musste eines Tages so kommen“, tönte Vivès, um die Sache herunterzuspielen. Giraudais befahl ihm, sich in seine Koje zurückzuziehen und auf weitere Anweisungen zu warten. Statt seiner holte man den Arzt der Boudeuse, Monsieur de la Porte, der sich um die Unglückliche kümmern sollte. Ihr Zustand war besorgniserregend. Man verabreichte ihr Opium, um sie ruhigzustellen. Pierre und Émile wachten vor ihrer Kajüte, während Giraudais und Commerson auf die Boudeuse gebracht wurden, wo der empörte Bougainville außer sich vor Entsetzen eine Beratung einberief. Sein Kapitän auf der Boudeuse, Pierre Duclos-Guyot, der auf der ganzen Reise ein gemeinsames Tagebuch mit Commerson geführt hatte, schrieb über den Vorfall lapidar: „Man hat herausgefunden, dass der Diener von Monsieur de Commerson, dem Arzt, in Wirklichkeit eine Frau ist.“ Keine weiteren Bemerkungen über Art und Gelegenheit der Entdeckung nach all der Zeit.
Commerson, vor allen zur Rede gestellt, beteuerte lebhaft, dass er ebenso erstaunt sei, wie alle anderen in diesem Raum über solche Entdeckung, und dass er niemals auch nur für einen Moment die Möglichkeit in Betracht gezogen habe, Monsieur Baret könne eine Frau sein.
Bougainville und Giraudais sahen sich an. Beiden war klar, dass die Aussprache zwischen Bougainville und Commerson in Rio de Janeiro, die zum Arrest des Botanikers durch Giraudais geführt hatte, hier unter keinen Umständen erwähnt werden durfte. Der Prinz von Nassau-Siegen bekundete sein Mitgefühl für das, was man Jeanne angetan hatte und betonte in anerkennenden Worten, dass, wenn es sich hierbei zwar um einen unverzeihlichen Betrug handele, er doch voller Bewunderung für die Haltung dieser Frau sei, die ungeheure Strapazen auf sich genommen hatte, um ihrem Herrn dienen zu können. Und man habe sehen können, alle der hier anwesenden Herren hatten mitbekommen, wie fleißig, wie unermüdlich sie gearbeitet, ja geschuftet habe. Er selber habe in Patagonien mehrfach Gelegenheit gehabt, Monsieur de Commerson und diesen Jean Baret zu begleiten. Nie sei er auf den Gedanken gekommen, der Diener könne eine Frau sein. Niemals habe man in irgendeiner Weise eine Koketterie, wie sie in der Natur der Frauen läge, an ihr bemerken können. Ihr ganzes Wesen und ihr Verhalten sei in der gesamten Zeit, soweit er das beurteilen könne, untadelig gewesen. Er bäte das in Betracht zu ziehen, und das unglückliche Wesen für den Rest der Fahrt vor weiterem Unheil zu beschützen.
Er sagte das nicht von ungefähr. Denn die Frage stand durchaus im Raum, wie nun mit dieser Aufdeckung einer Straftat zu verfahren sei. Monsieur Véron meldete sich zu Wort und betonte, dass er dem Prinzen in allem beipflichte und dass auch er bei seinen häufigen Gesprächen mit Monsieur Baret vor der südamerikanischen Küste, als er noch auf der Étoile gewesen sei, niemals die geringste Unschicklichkeit wahrgenommen habe und keine Sekunde an der Identität dieses Jungen gezweifelt habe.
Also stimmten alle darin überein, dass niemand, auch Commerson nicht, von dem Betrug gewusst haben konnte. Was mit Jeanne geschehen sollte, darüber konnte man sich zu einem späteren Zeitpunkt nähere Gedanken machen. Da ihr Zustand im Augenblick absolute Ruhe verlangte und sie sicher über Wochen in der Kabine bleiben müsse und damit den unmittelbaren Blicken der Männer entzogen sei, da man außerdem von jeglicher Zivilisation weit entfernt sei und voraussichtlich auch noch eine Weile bleiben werde, bestand kein unmittelbarer Handlungsbedarf.
Ein anderes Problem war damit allerdings noch nicht gelöst. Niemand hatte es bisher angesprochen. Bis Monsieur Véron in ein betretenes Schweigen hinein sagte: „Was geschieht mit den Tätern?“ Nun war es ausgesprochen.
Hatte man bis dahin lediglich den Fall eines unerhörten Betrugs zu besprechen, dessen Folgen allerdings in gewisser Weise gravierend sein konnten, der aber doch, wie man gerade übereingekommen war, die Herren nicht substanziell berührte, so handelte es sich nunmehr um ein außerordentliches Verbrechen. Die Vergewaltigung einer jungen Frau durch eine Gruppe von Männern. Vivès hatte behauptet, ohne die Namen preiszugeben, dass es sich nicht um Matrosen gehandelt habe, die unmittelbar der Gerichtsbarkeit des Kapitäns und des Kommandanten unterstanden. Das hätte als Strafmaß den Tod durch Erhängen bedeutet. Nun seien aber hierfür die Diener einiger Offiziere und anderer Herren anzuklagen. Auch diese durften allerdings nicht ohne gravierende Strafe davonkommen. Bougainville kannte Vivès Haltung. Er hatte ihn mehr als einmal schlecht über Commerson und sein Liebchen reden hören. Genau darin lag der Grund, warum er Giraudais angewiesen hatte, Vivès auf der Étoile in Zaum zu halten und ihn nicht etwa an der augenblicklichen Besprechung teilhaben zu lassen. Wenn er diese Männer bestrafte, wie er es gemusst hätte, wäre dies ein ungeheuerliches Vorkommnis, das selbstverständlich gemeldet werden musste. Und das auch nach Abschluss der Weltumseglung in Frankreich hohe Wellen schlagen würde. Er konnte nicht darauf hoffen, dass Vivès über die Angelegenheit Stillschweigen bewahren würde, sondern musste damit rechnen, dass er bei einer etwaigen Befragung über die Geschehnisse nicht damit hinter dem Berg halten würde, dass er die Verkleidung der Person sofort durchschaut habe. Und dass er alle, die das immer geleugnet hatten, der Mitwisserschaft anklagen würde.
Bougainville fasste daher einen Entschluss. „Sie werden mit mir übereinstimmen, meine Herren, dass eine entsprechende Bestrafung der Schuldigen für uns alle unabsehbare Konsequenzen zeitigen würde. Wenn wir zugeben, dass der Vorfall in der uns übermittelten Weise stattgefunden hat, müssten wir die Täter in angemessener Weise, sprich mit dem Tode bestrafen. Es ist nicht auszuschließen, dass wir damit eine unangenehme Debatte lostreten würden über die Einstellung aller Herren hier im Raum und ihre mögliche Kenntnis von der Anwesenheit einer weiblichen Person an Bord eines unserer Schiffe während der letzten anderthalb Jahre. Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass die Meinung, man müsste dies früher bemerkt haben, von einem Mitglied unserer Offiziersmannschaft bereits verlautet wurde. Ich bin deswegen zu folgendem Schluss gekommen: Diesen Vorfall hat es nie gegeben. Wir haben keine Täter und kein Opfer. Es wird daher auch keine Bestrafung geben. Bei Gelegenheit ist der Diener von Monsieur de Commerson als Frau entdeckt worden. Das ist unangenehm, aber es berührt die Aufgabe unserer Expedition nur marginal. Ich werde für diese Angelegenheit eine Lösung finden, und ich glaube sogar, sie bereits gefunden zu haben. Im Übrigen bitte ich Sie, nein ich befehle Ihnen, hierüber Schweigen zu bewahren. Kein Wort von dem, was heute hier besprochen wurde, darf aus diesem Raum nach draußen dringen. Dies geschieht in unser aller Interesse und zu unserem eigenen Schutz.“ Alle pflichteten ihm bei.
25.
Als er allein war, überlegte Bougainville fieberhaft. Das Problem, wie mit dieser Frau zu verfahren sei, wäre in der Tat lösbar. Wenn sie ihre Fahrt fortsetzen und endlich diese missliche Gegend hinter sich gelassen haben würden – zur Not würde man bei der Ladung von Proviant und Wasser die Holländer um Hilfe bitten müssen, die sich hier auf zahlreichen Inseln in Indonesien breit gemacht hatten – und den Indischen Ozean erreicht hätten, kämen sie auch bald zur Île de France. Und hier würde er sowohl diese Frau als auch ihren Herrn und Meister an Land setzen. Bougainville schätzte Commerson durchaus. Er war gebildet, geistreich, konnte ebenso charmant wie andererseits unfreundlich und bisweilen anstrengend sein, war aber auf jeden Fall immer ein fabelhafter Gesellschafter. Zu ihm, Bougainville, hatte er sich im Übrigen immer von seiner besten Seite gezeigt. Selbstverständlich hatte er das. Dass er auch weniger angenehme Seiten zeigen konnte und insbesondere bei der Mannschaft nicht sonderlich beliebt war, hatte Bougainville natürlich mitbekommen. Aber das war kein Kriterium. In gewisser Weise nötigte die ungeheure Dreistigkeit, mit der Commerson diese Maskerade durchgezogen hatte, Bougainville sogar Hochachtung ab. Das war schon ein Husarenstück, wenn man es recht bedachte. Andererseits stand außer Frage, dass der Botaniker auch ihn, Bougainville, und natürlich La Giraudais durch solches Verhalten auf das heftigste diskreditierte.
In Rio de Janeiro hatte die Angelegenheit noch diskret behandelt werden können, und er war auch willens, um einen Skandal zu vermeiden und die arme Frauensperson nicht ins Unglück zu stürzen, alles sozusagen unter den Teppich zu kehren. Aber jetzt war die Entdeckung öffentlich, und das konnte Bougainville sich nicht gefallen lassen. Deswegen würde er Commerson dringend nahelegen, das Schiff und die gesamte Expedition auf der Île de France, also auf französischem Gebiet, zu verlassen. Freiwillig. Und sein Diener, respektive diese Frau, würde selbstverständlich bei ihm bleiben. Das also schien das geringste Problem.
Wenn man ohne diesen Stein des Anstoßes zurück in Frankreich wäre und es keine Untersuchung gäbe – denn ohne Anklage keine Untersuchung – dann könnte man etwaige Gerüchte, die die Matrosen von der Angelegenheit verbreiteten, als Geschwätz abtun. Und selbst Vivès war keine Gefahr. Vivès hatte keine Freunde und keinen Einfluss. Er musste sehen, dass er auf einem anderen Schiff anheuern konnte. Ihm war sicher klar, dass ein Mann wie Bougainville, wenn er es sich mit ihm verscherzte, das leicht verhindern konnte. Auch da also lag kein wirkliches Problem.
Andererseits hatte die ganze Geschichte doch so viel Staub aufgewirbelt, dass man sie nicht vollständig übergehen konnte. Auch weil Monsieur de Commerson als bekannter und angesehener Wissenschaftler vermisst werden und die Frage nach dem Grund seines Ausscheidens gestellt werden würde.
Bougainville suchte weiter nach einer Lösung. Er würde eine Eintragung zu dem Fall, oder besser zu der Aufdeckung der Verkleidung dieses Dieners in sein Logbuch machen müssen. Und er dachte darüber nach, wer eine solche Entdeckung gemacht haben könnte, ohne sich selber oder sonst jemanden zu kompromittieren. Da fiel ihm Aotourou ein. Er dachte daran, wie Vivès von der spontanen Reaktion des Tahitianers auf Jeannes Andersartigkeit gesprochen hatte. Das war die Lösung. Er würde die Entdeckung nach Tahiti verlegen, und er würde hierfür das untrügliche Gespür eines unverdorbenen Naturvolkes verantwortlich machen. Was die Europäer in ihrer durch Gewohnheit und Konventionen hervorgerufenen Verblendung nicht gesehen hatten, das war den natürlichen, guten Wilden mit einem Blick erkenntlich. Wie würde er später, als Diderot genau diesen Köder geschluckt hatte, über seinen Einfall schmunzeln. Ja, so musste es gewesen sein.
Allerdings konnte er das nicht heute, am 11. Juli 1768, ins Logbuch eintragen, drei Monate nachdem man Tahiti bereits verlassen hatte. Bougainville blätterte durch seine Eintragungen. Und er wurde fündig. Unter den beiden Seiten mit dem Datum 28. und 29. Mai war etwas mehr als eine halbe Seite rechts frei geblieben, bevor er die nächste, linke Seite mit Datum 30. Mai begonnen hatte. Und da trug er den Vorfall ein, wie er ihn dann nahezu wörtlich auch in seiner späteren Reisebeschreibung übernehmen sollte. Dort allerdings brauchte er kein genaues Datum zu nennen, konnte einfach schreiben, dass die Eingeborenen auf Tahiti die Verkleidung erkannt hatten. Er überlegte sich den zu bekundenden Hergang sehr sorgfältig.
Er persönlich sei nicht dabei gewesen, so schrieb er, man habe ihn, nachdem man Tahiti bereits verlassen hatte, auf die Étoile gerufen und ihn über die Entdeckung der Eingeborenen unterrichtet. Monsieur de Commerson habe beteuert, er sei aus allen Wolken gefallen, als man ihm erklärte, sein Diener sei eine Frau. Niemand habe es gewusst und auch nicht erkennen können, auch er, Bougainville, nicht. Vom Äußeren her schon habe es keine besonderen Anzeichen gegeben, da diese Frau weder hübsch noch hässlich zu nennen sei, und man habe sie, wenn man sie bei der Arbeit beobachtete, für außerordentlich tatkräftig gehalten, da sie keine Mühen und Schwierigkeiten scheute bei der Ausübung ihrer helfenden Tätigkeit für den Botaniker. Bougainville habe sie dann persönlich zur Rede gestellt, und die arme Person habe ihm unter Tränen gestanden, dass sie in großer Not gewesen sei, dass persönliche Schwierigkeiten auch finanzieller Art sie zu solchem Handeln gezwungen hätten. Monsieur de Commerson habe sie erst am Tage vor der Abfahrt angesprochen, weil sie gehört hatte, dass er dringend nach einem Diener suche. Auch sei sie der festen Überzeugung gewesen, diese Verkleidung durchhalten zu können, weil sie schon einmal bei einem Herrn aus Genf als Kammerdiener gearbeitet habe. Genf war als Hort der Freigeister bekannt.
Das war perfekt. Es gab keinen Skandal, überhaupt nichts Auffälliges. Niemand hatte etwas bemerkt, keiner war schuld an dieser Ungebührlichkeit außer dem armen Diener selber. Bougainville bemühte sich, alles auf die halbe Seite zu bringen. Die letzten Zeilen musste er zunehmend enger schreiben.
Selbstverständlich hatte der Kommandant die Angelegenheit zu einem für alle befriedigenden Ende gebracht, indem er die Person auf französischem Boden an Land setzte. Auch das erklärte er in seinem Reisebericht. Monsieur de Commerson, obwohl ihn keinerlei Schuld treffe, habe aber doch aus einem gewissen Verantwortungsgefühl die Frau nicht ihrem eher ungewissen Schicksal überlassen wollen und sei deshalb auf eigenen Wunsch mit von Bord gegangen.
So würde es gehen. Bougainville rechnete damit, dass niemand, sollte er die Expedition ohne weitere Vorfälle beenden, Einblick in sein Logbuch nehmen würde. Und dass deswegen auch niemandem auffallen würde, an welchem Datum genau er seinen Bericht eingetragen hatte. Denn am 28./29. Mai waren bereits sechs Wochen seit der Abfahrt von Tahiti vergangen, und es war ein Zeitpunkt, an dem sie bereits von Hunger und Wassermangel gequält, ganz andere Probleme hatten.
Alle diese Gedanken beruhigten Bougainville vollkommen, und in dieser Nacht sollte er gut schlafen.
Andere Schwierigkeiten nahmen aber sobald kein Ende. Auf New Ireland gab es zwar Wasser und Früchte und einige wenige Vögel, aber keine Vierbeiner, die sie mit Fleisch versorgt hätten, und so gerieten die Seeleute schon bald, nachdem sie Ende Juli wieder aufgebrochen waren, neuerlich in Versorgungsprobleme. Auch das Wetter, ungünstige Winde und Strömungen, hinderten sie daran, Land anzusteuern und dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Aus diesem Grund nahm Bougainville ohne größere Bewegung von einem Vorfall Kenntnis, der sich Anfang August auf der Étoile ereignete. Der Chirurg, Vivès, war aus unbekannten Gründen gestürzt, hatte sich einige Rippen gebrochen und neben einer Verletzung am Kopf verschiedene Blutergüsse davongetragen. Man rief Monsieur de la Porte, seinen Kollegen von der Boudeuse, um Vivès zu verarzten. Wenn es Gerüchte gab, der Sturz sei nicht zufällig und auch nicht ohne fremdes Zutun zustande gekommen, so beschloss Bougainville, dies zu ignorieren, da Giraudais ihm versicherte, dass sein Schiffsarzt zwar sicher Schmerzen empfinde, aber im Übrigen bald wieder genesen werde.
Pierre und Émile versuchten herauszubekommen, wer für Jeannes Unglück verantwortlich zu machen war. Aber die Matrosen schwiegen eisern. Niemand war auch nur im Geringsten bereit, Andeutungen zu machen. Die Schuldigen mussten sich darüber im Klaren sein, was auf dem Spiel stand und dass sie ihr Leben verwirkt hatten, sollte man sie zur Rechenschaft ziehen. In Anbetracht dieser Bedrohung hielten auch alle anderen still, und für einmal gab es keine bösartigen Gerüchte und Verlautbarungen wie sonst bei jeder Kleinigkeit. Auch saß allen offensichtlich der Schock in den Gliedern: dass sie fast zwei Jahre mit einer Frau zusammen auf dem Schiff gesegelt waren; dass sie sich hatten täuschen lassen, obwohl die Angelegenheit von Anfang an so merkwürdig war und Vivès ja immer wieder darauf hingewiesen hatte. Und jetzt eine solche Ungeheuerlichkeit. Manch einem mochte es vielleicht sogar leidtun, dass er selber nicht bei dem Überfall dabei gewesen war. Obwohl man jetzt natürlich auch nicht in der Haut der Täter stecken wollte, solange man noch nicht absehen konnte, welche Konsequenzen zu erwarten waren. Aber es geschah nichts weiter. Man hielt sozusagen kollektiv den Atem an.
Pierre und Émile hatten keinen weiteren Anhaltspunkt als eben Vivès. Und so entschlossen sie sich, die Rache an Jeanne, wenigstens symbolisch sozusagen, selber in die Hand zu nehmen. Sie wagten nicht, ihn zu töten, was sie gerne getan hätten. Aber gänzlich ungestraft sollte er nicht davonkommen. Es gab nun auch deutlich andere Probleme.
Vermoderndes Wasser, von Würmern befallener Schiffszwieback, die zermürbenden Wetterverhältnisse, dazu der erste an Skorbut gestorbene Matrose, setzten der Mannschaft auf beiden Schiffen nicht nur psychisch zu, sondern schwächten sie auch körperlich. Bougainville hatte insgeheim gehofft, er könne unbemerkt eine der molukkischen Inseln ansteuern. Die Holländer hatten das Monopol des äußerst lukrativen Muskatnusshandels inne und verteidigten ihren Vorteil in den Meeren mit allen Mitteln. Obwohl die Muskatnuss lediglich auf einer einzigen Insel wuchs und Spionage lebensgefährlich war, blieben die Franzosen nicht die einzigen, die hofften, den Standort entdecken und eventuell Samen oder Setzlinge von dieser Insel zu schmuggeln, um ihren Anteil an dem Geschäft zu erlangen. Dabei liefen sie Gefahr, von den Holländern erwischt und getötet zu werden. Trotzdem versuchte Bougainville tatsächlich, als die Schiffe in der Banda-See endlich Land ansteuern konnten, sich mit falscher, holländischer Flagge der Insel zu nähern, um die Eingeborenen zu täuschen und vielleicht auf diese Weise Angaben zu dem gesuchten Ort zu erlangen. Aber die Boote, die sich zunächst den Fregatten genähert hatten, wichen beim Anblick der holländischen Flagge entsetzt zurück, was als Zeichen für ihre große Angst vor den Holländern gewertet werden musste. Es blieb Bougainville und seinen erschöpften Mannen schließlich nichts anderes übrig, als aufzugeben und sich den Holländern auszuliefern.
Anfang September kamen sie auf der kleinen Insel Boëro an (heute: Buru), die in geringer Entfernung der größeren Insel Seram lag. Ihre Schiffe wurden aufs gründlichste von den Holländern untersucht. Vor allem die Kapitänskajüte, wo Commerson und Jeanne tausende von Pflanzen, die Ausbeute der letzten fast zwei Jahre gesammelt und aufbewahrt hatten, wurde auf den Kopf gestellt. Erst als man sicher war, dass die Franzosen keine unerlaubten Pflanzen, insbesondere Gewürze an Bord hatten, konnten die Offiziere an Land kommen und der Gouverneur von Boëro lud sie zum Essen ein. Nichts hätte den miserablen Zustand der Seeleute mehr verdeutlichen können, als diese hungrige Meute. Die Männer verschlangen das ihnen vorgesetzte Essen geradezu, ohne im Geringsten auf Regeln von Anstand und Maßhalten zu achten. Die Holländer waren erschüttert.
Später sollte sich Bougainville in seinem Reisebericht voller Dankbarkeit an die gute Aufnahme auf Boëro erinnern. Niemand könne sich vorstellen, so schrieb er, was es bedeutete, wenn man Monate gehungert habe und täglich mit dem Schlimmsten rechnen müsse, ausgeliefert einer launischen, willkürlichen Natur und dann von hilfsbereiten, freundlichen Menschen empfangen und mit Essen und Trinken versorgt werde. Niemals hätten er und seine Männer eine tiefere Dankbarkeit und ein innigeres Glücksgefühl empfunden.
Am nächsten Tag erlaubte man den Einheimischen, Nahrungsmittel auf die Schiffe zu bringen, so dass auch für den Rest der Schiffsbesatzung gesorgt war. Im Übrigen bat man, die Kranken und vom Skorbut Gezeichneten an Land bringen zu dürfen. Sie wurden medizinisch versorgt und erholten sich bereits nach wenigen Tagen.
Als die Offiziere abends zum Essen von Bord gegangen waren, blieb Jeanne in ihrer Kabine allein zurück. Seit ihrem Überfall im Juli hatte sie den kleinen Raum nicht mehr verlassen und war auch zum ersten Mal ganz allein, ohne Commerson wenigstens in der Nähe zu wissen. Voller Panik hielt sie Commersons Pistole auf die Tür gerichtet. Stundenlang stand sie zitternd inmitten des Chaos, das die holländischen Beamten bei der Untersuchung der Pflanzen hinterlassen hatten. Als sie plötzlich ein Geräusch an der Tür wahrnahm, glaubte sie, die Männer kämen noch einmal, um sie zu überfallen und schrie entsetzlich in ihrer wahnsinnigen Not. Dann hörte sie eine bekannte Stimme, die sie leise zu beruhigen suchte. „Wir sind es, Jeanne, wir passen auf dich auf, du brauchst keine Angst zu haben!“ Pierre und Émile hörten ihren gehauchten Dank nicht, aber sie wussten, dass ihre Gegenwart Jeanne beruhigen würde.
Die Holländer halfen den Schiffen, sich wieder vollständig mit Wasser und Proviant einzudecken, sorgten aber dafür, dass Bougainville keine weiteren Versuche unternahm, botanische Spionage zu betreiben. Von Boëro aus segelte man direkt nach Java und kam drei Wochen später, Ende September, im Haupthafen der Holländer in diesen Gewässern an: Batavia (heute: Jakarta). Die lebhafte Stadt, ihre zum Teil prachtvollen Häuser beeindruckten die Franzosen zunächst, anderseits waren der Schmutz und das Gedränge im Hafen und die damit einhergehenden Krankheiten durch Bakterien und fatale Moskitos abschreckend genug. Am 17. Oktober machte sich Bougainvilles Expedition von Batavia aus auf den Heimweg, der zunächst durch den Indischen Ozean zur Île de France führte. Am 7. November 1768 kamen die Boudeuse und die Étoile in Port Louis auf der französischen Insel an. Jeanne Baret war im vierten Monat schwanger.
Als sie sich ein letztes Mal zu dem Schiff umdrehte, auf dem sie die letzten zwei Jahre eine unbeschreibliche Odyssee hinter sich gebracht hatte, sah sie Pierre und Émile an der Reling stehen, ganz wie am ersten Tag dieses Abenteuers. Tränen der Dankbarkeit traten ihr in die Augen, als sie daran dachte, wie viele Male diese beiden ihr geholfen hatten. Sie würden einander nicht wiedersehen. Sie hob ihre Hand leicht zum Abschied und hörte, wie Pierre ihr nachrief: „Lass dich nicht unterkriegen, Jeanne, bleib stark!“
26.
Paris, 1776
Eineinhalb Jahre nachdem Bougainville Diderot im Café Procope getroffen hatte, erhielt er einen Brief in ungelenker Schrift, unterschrieben mit Madame Jeanne Dubernat, alias Jean Baret. Sein schieres Erstaunen darüber wurde überlagert von einer plötzlichen Freude. So hatte sie also überlebt und war heil wieder in Frankreich angekommen. Er hatte immer ein ungutes Gefühl gehabt, was diese arme Jeanne anging, weil er sie damals auf der Île de France zurückließ. Natürlich gab es nach dem Skandal keine Alternative. Die ganze Geschichte war einfach zu ungeheuerlich und hätte ihn entschieden kompromittiert. Man stelle sich vor, eine Entbindung auf seinem Schiff, auf seiner Boudeuse! Nicht auszudenken, was für ein Aufruhr das gewesen wäre. Und schließlich war die Île de France französisches Gebiet, da brauchte er sich keine Vorwürfe zu machen, wie das der Fall gewesen wäre, wenn er sie schon damals in Rio … Außerdem war sie ja nicht allein. Bougainville sah es durchaus als Pflicht dieses Commerson an, sich um seine Haushälterin zu kümmern, da er sie schon in diese unglaubliche Situation gebracht hatte. Natürlich musste damals der Anschein gewahrt bleiben. Niemand hatte es gewagt, Commerson der Lüge anzuklagen, als dieser behauptete, das wahre Geschlecht seines Dieners nicht gekannt zu haben. Außer diesem Vivès natürlich, diesem unangenehmen Menschen.
Commerson hatte es schon in Rio de Janeiro behauptet, als Bougainville ihn zum ersten Mal mit der Wahrheit konfrontierte. Selbstverständlich konnte Bougainville ihm auch zu jener Zeit nicht glauben. Er war ja nicht weltfremd. Aber auch damals schon sah er sich gezwungen, einen Kompromiss einzugehen. Er hatte Commerson bestraft, um ihm deutlich zu machen, wer der Kommandant war und die Gerichtsbarkeit auf diesen Schiffen innehatte. Aber er hatte sich dann doch entschlossen, die Fakten, die sonst niemand zu kennen schien, einfach zu ignorieren und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Tja – bis es dann nicht mehr anders ging. Gott sei Dank hatte man es bis zur Île de France geschafft. Es war gar nicht so einfach gewesen, den beiden Männern eine Freistellung auszuhändigen. Eigentlich hätte er das gar nicht so ohne weiters gedurft, denn sie standen im Dienst des Königs. Aber auf hoher See gab es immer unvorhergesehene Zwischenfälle, die doch wieder vieles möglich machten.
Der andere Mann war Véron, der Astronom, dieser arme Teufel. Ein angenehmer Mann, der aber leider an seiner Aufgabe scheiterte, eine Längengradbestimmung auf hoher See durchzuführen. Erst vor kurzem war dies durch die Erfindung eines englischen Uhrmachers gelungen, John Harrison. Ohne dass man hier in Frankreich bereits von dieser glorreichen Erfindung hätte profitieren können, da die Engländer das Geheimnis der Präzisionsuhr auf See natürlich für sich behielten, hatte sich die Kunde der erfolgreichen Erfindung doch auf dem Kontinent bereits herumgesprochen. Es war Bougainville damals klar gewesen, warum Véron die Expedition verlassen wollte. Er konnte nicht als Versager, als Gescheiterter nach Frankreich zurückkehren. Was mochte aus ihm geworden sein? Und aus Commerson?
„Ich wollte Sie wissen lassen, dass ich gesund nach Frankreich zurückgekehrt bin“, schrieb Madame Dubernat. „Ich wage das, weil Sie so überaus gütig gewesen sind, mir mein Vergehen nicht weiter anzulasten, das Sie als Kommandanten dieser so wichtigen Expedition doch in gewisse Unannehmlichkeiten gestürzt haben muss.“ Sie wolle sich dafür bedanken, schrieb sie weiter, und ihn weiterhin wissen lassen, dass Monsieur de Commerson am 13. März 1773 auf der Île de France verschieden sei. Die Verwaltung der Insel habe darauf seinen gesamten Besitz an Pflanzen und Tieren und geologischem Material, das man während der großen Expedition gesammelt hatte, nach Frankreich zurückgeschickt. Sie hoffe, dass dies der Wissenschaft zum Nutzen gereiche. Monsieur de Commerson habe im Übrigen vor ihrer beider Abreise im Jahr 1766 ein Testament gemacht, in dem auch sie mit einer nicht unbedeutenden Summe bedacht worden war. Sie habe nach ihrer Rückkehr ihre Forderung geltend gemacht, die im April diesen Jahres anerkannt worden war. Nun könne sie in Ruhe mit ihrem Mann in der kleinen Gemeinde Saint-Aulaye in der Dordogne sorgenfrei leben.
Bougainville dachte, das ist doch wirklich unglaublich. Sie kannten sich nicht nur, der Botaniker und sein Diener, sondern sie mussten sich sogar ziemlich nahegestanden haben, wenn er ein Testament gemacht, in dem er diesen Diener, oder besser diese Frau, so wohlwollend bedacht hatte. Bougainville rief sich Commerson ins Gedächtnis. Nichts hatte sich an seiner Einstellung geändert. Der Botaniker war ein geistreicher Gesellschafter, insbesondere auf einer so langen, eintönigen Seereise. Aber er war kein einfacher Mann. Was für ein Egoist, wenn man es genau nahm! Wie viele Male hatten Bougainville und die anderen Männer zugesehen, wie der Botaniker an allen möglichen Ufern saß, während diese arme Frau alle Arbeit verrichtete. Selbst für einen Burschen wäre das sicher außergewöhnlich gewesen. Aber man hätte sich im Grunde nicht weiter darüber gewundert. Unter diesen Umständen aber, zu wissen, dass der Diener eine Frau ist und ihr trotzdem ganz selbstverständlich all die schweren Aufgaben zu überlassen, das ließ Bougainville nicht kalt. Er hatte Respekt vor den Frauen. Er verachtete sie nicht, etwa weil sie im Allgemeinen eher schwach und den schönen Dingen im Leben zugetan waren. Als aufgeklärter Mensch war er davon überzeugt, dass auch einfache Bürger und Diener der Herren und selbst Matrosen eine Würde besaßen, die man nicht gedankenlos verletzen durfte. Deswegen sah Bougainville das Verhalten dieses Botanikers heute, wo die Angelegenheit ihn nicht mehr bedrohte, mit anderen Augen. Er spürte eine große Sympathie für Madame Dubernat. Wie mochte es ihr ergangen sein? Und was mag der Tod ihres Beschützers für sie bedeutet haben? Auch wenn dieser sich nicht immer fair verhielt, so meinte Bougainville doch verstanden zu haben, dass Commerson immer zu Jeanne stand, vor allem in den schrecklichen Wochen nach diesem Vorfall. Er hatte sie ganz sicher auch auf der Île de France nicht allein gelassen. Was aber geschah mit ihr nach seinem Tod? Commerson würde sie nicht geheiratet haben. Wovon lebte sie dann? In einer Anstellung als Haushälterin? Bougainville beschloss, ihr seinerseits einen Brief zu schreiben und bat sie darin, ihm doch mitzuteilen, wie es ihr ergangen war, seit er sie auf der Île de France zurückgelassen hatte.
Die warme Herbstsonne beschien die junge Frau, die auf einer Bank vor ihrem kleinen Haus in Saint-Aulaye saß, als sie den Brief des Kommandanten in Händen hielt. Und sie erinnerte sich.
Sie waren 1768 sehr freundlich in Port Louis empfangen worden. Das hieß natürlich, Commerson wurde gut empfangen. Denn der augenblickliche Verwaltungschef, ein Monsieur Pierre Poivre, war selber Botaniker und ebenso vernarrt in die Pflanzenwelt wie Commerson. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Poivre besaß unweit außerhalb der Stadt ein wunderbares Anwesen, Mon Plaisir genannt, mit einem schönen großen Garten, und er hatte die Vorstellung, diesen zu einem regelrechten botanischen Garten auszuweiten (Heute tatsächlich der Botanische Garten von Pamplemousse ). Ihm war dabei besonders daran gelegen, Heilpflanzen zu sammeln, zu erforschen und dort anzupflanzen. Commerson kam ihm für diese Zwecke wie gerufen.
Keiner der Herren beachtete Jeanne im Geringsten, so dass sich Madame Poivre in die Lage versetzt sah, mit dieser Person undefinierter Stellung zurecht zu kommen. Jeanne erhielt einen kleinen, einfach möblierten Raum im Dienstbotentrakt des schönen Anwesens, das seinem Name Mon Plaisir alle Ehre machte. Jeanne erinnerte sich deutlich ihrer zwiespältigen Gefühle. Madame Poivre ließ sie spüren, dass sie sich keinen Reim auf diese Konstellation machen konnte. Da war der bekannte Botaniker, von dem ihr Mann so viel gehört hatte und über dessen Anwesenheit in Port Louis er so außerordentlich froh war, dass er ihn als Gast in sein Haus aufnahm. Und dann diese mehr als zweifelhafte Person, die in Männerkleidung herumlief, aber doch eindeutig eine Frau war. Und die überdies auf demselben Schiff angekommen war wie Monsieur de Commerson. Madame Poivre versagte es sich, genauer darüber nachzudenken oder es sich gar auszumalen, was das bedeuten mochte. Die Peinlichkeit dieser Situation konnte sie ihrem Mann nicht begreiflich machen. Er tat dies als lächerliches Frauengewäsch ab. Niemand hatte ihn, den obersten Verwaltungschef der Île de France, wegen einer solchen Lappalie zu kritisieren, auch nicht seine Frau. Dennoch wurde es Jeanne nicht erlaubt, sich mit der übrigen Dienerschaft im Haus nützlich zu machen. Allerdings durfte sie sich weiterhin um das Ordnen und Einsortieren von Commersons pflanzlicher Ausbeute kümmern.
Sie erinnerte sich genau an ihre Gefühle, als sie in dieser ersten Nacht allein in ihrem kleinen Zimmer geschlafen hatte. Der Boden wankte nicht mehr unter ihren Füßen, sie hörte draußen keine unruhigen Männerstimmen und das Gerenne der Matrosen, die das Schiff in Gang hielten. Der Schlafraum war nicht erfüllt vom Gestank der hundert Männer, stattdessen drang das Zirpen der Grillen und der Duft exotischer Blüten durch das offene Fenster. Jeanne lag in ihrem Bett und musste sich zur Ruhe zwingen. Nur langsam erfasste sie ihr Glück. Zum ersten Mal seit zwei Jahren schlief sie allein, hatte sie einen Raum, den sie mit niemandem teilen musste. Von keiner Seite drohte Gefahr. Dennoch konnte sie zunächst kein Auge zumachen. Die Unruhe, die Angst, die in den letzten Jahren ihr ständiger Begleiter waren, wollten ihre Nerven zunächst nicht freigeben. Sie stand auf und ging zum geöffneten Fenster, horchte in die Nacht und sog den süßen Duft der tropischen Pflanzen ein. Erst ganz allmählich erfüllte sie das alles mit einer immensen Erleichterung, mit einer großen Freude, einem Glücksgefühl, wie sie es lange nicht mehr gespürt hatte. Zum ersten Mal eigentlich seit sie Frankreich verlassen hatte, dachte sie an ihren Gott und dankte ihm. Für ihre Errettung. Für ihr Überleben. Alle Prüfungen lagen nun hinter ihr. Jetzt würde alles gut. Nicht wie damals, als sie in Paris an der Seite von Commerson ein bürgerliches Leben führte. Als sie sich wünschte, ihrer Mutter zeigen zu können, wie weit sie es im Leben gebracht hatte. Da war sie gedankenlos gewesen. Oder nein, sie hatte sich die falschen Gedanken gemacht. Sie glaubte, Commerson brauche sie so sehr, dass er sie heiraten werde. Ja, sie wurde gebraucht. Er konnte sogar, wenn man es genau nahm, ohne sie nicht einmal seine eigentliche Arbeit richtig machen. Deswegen wollte er sie auf diese Weltreise mitnehmen. Und hochmütig wie sie war, folgte sie ihm im Glauben, nichts könne sie trennen, und er würde daraus die einzig logische Konsequenz ziehen, sie als seine wahre Partnerin anzuerkennen und schließlich heiraten.
Und nun lag sie in der Dienstbotenkammer auf einer Insel, fern der Heimat und weiter von ihren Wünschen und Zielen entfernt, als je zuvor. Nur waren diese jetzt nicht mehr mit Philibert verbunden. Sie konnte wieder Jeanne Baret sein, die Haushälterin eines vornehmen Herrn. Ihre Daseinsberechtigung lag darin, ihm zu Diensten zu sein. Nicht mehr im Haushalt, jedenfalls hier nicht, sondern bei seinen naturwissenschaftlichen Objekten. Diese Aufgabe konnte niemand sonst übernehmen, und das sprach ihr auch niemand ab. Für den Moment also war sie gerettet, dieser Hölle auf See entkommen, konnte Dinge tun, die sie gerne machte. Sie betete zu ihrem Gott voller Dankbarkeit.
Allerdings war auch klar, dass das Ende ihrer Leiden vielleicht doch noch nicht gekommen war. Das Kind in ihrem Leib wuchs heran. Madame Poivre enthielt sich nicht, nach ein paar Tagen eine Bemerkung über Männerkleidung zu machen, die immer noch Jeannes einzige Garderobe waren. Niedergeschlagen musste sie zugeben, dass sie nichts anders besäße, dass solche Kleidung allerdings auch äußerst praktisch für ihre Arbeit im Freien sei, wenn sie mit Monsieur de Commerson botanisiere. Madame Poivre rümpfte die Nase und erklärte, dass sie ihr einige Kleider von einem ihrer Hausmädchen geben wolle und dass sie darum bäte, solange sie in ihrem Haus weile, nur solche Kleider zu tragen, die ihrem weiblichen Geschlecht angemessen seien.
Ein Mädchen kam, um ihr die versprochenen Sachen zu bringen und bestand darauf, dass Jeanne sie gleich anprobierte, auch weil sie die Männerhosen waschen wollte. Es war Jeanne nicht angenehm, sich vor der anderen zu entkleiden, nicht so sehr aus Scham, als aus Sorge darüber, man möge ihr ihren Zustand ansehen. Das Mädchen kicherte, als sie Jeanne sich ausziehen sah und als sie ihr beim Ankleiden half. Aber sie sagte nichts. Sie musste aber doch eine Bemerkung der Hausherrin gegenüber gemacht haben, denn Jeanne fühlte deren kritische Blicke zu jeder Gelegenheit auf sich gerichtet. Es war ihr bewusst, dass der Moment kommen würde, in dem sie ihren Zustand nicht mehr verbergen konnte, und sie befürchtete, die Geduld von Madame Poivre, die schon jetzt deutlich angespannt schien, damit endgültig zu überfordern.
Sie machte Commerson darauf aufmerksam. Er hatte alle Schwierigkeiten bisher völlig ignoriert, weil sein Gastgeber so überaus froh über seine Gegenwart war und sie beide sich ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit erfreuten. Jeannes Gegenwart war ihm deswegen völlig aus dem Sinn gekommen. Aber die unglücklichen Ereignisse zuletzt auf See hatten ihn doch andererseits sensibilisiert für bestimmte Notwendigkeiten. Und nun sah er ganz klar, dass er seine Gastgeber und vor allem seine liebenswürdige Gastgeberin nicht der Verlegenheit aussetzen konnte, eine unverheiratet schwangere Domestikin zu beherbergen. Monsieur Poivre hatte von der Kaffeeplantage eines gewissen Monsieur Bézac in Flacq gesprochen, nördlich von Port Louis gelegen, der über jede qualifizierte Hilfe bei Aufbau und Verbesserung seiner Plantage dankbar sein würde.
Das Anwesen war weit genug von der Stadt und damit von allem gesellschaftlichen Klatsch und Tratsch entfernt. So hatte sich Commerson mit seiner Dienerin auf der Plantage von Monsieur Bézac einrichten können, noch ehe es mit Madame Poivre zu einem unausweichlichen Eklat kommen konnte.
Kurz bevor sie aufbrachen, kam Monsieur Véron, der Astronom, zu Besuch, um sich von Commerson zu verabschieden. Er hatte die Expedition ebenfalls auf der Île de France verlassen, um der Peinlichkeit zu entgehen, seinem König von seinem Versagen berichten zu müssen. Denn so würde man es interpretieren. Jetzt wollte er mit einem der nächsten Schiffe nach Indien aufbrechen, um dort sein Glück zu versuchen. Commerson wünschte ihm alles Gute, aber Véron merkte, dass sein Schicksal dem Botaniker gleichgültig war. Der Astronom verstand, dass der Botaniker mit der Wendung seiner eigenen Situation durchaus zufrieden sein konnte. Er hatte in Monsieur Poivre einen Gleichgesinnten getroffen, der es ihm ermöglichte, seiner Bestimmung hier einfach weiter nachzugehen. Dass sich Véron in einer sehr viel schwierigeren Situation befand, sah Commerson nicht und es hätte ihn auch wenig bekümmert. Er verabschiedete Véron höflich, ohne sich über dessen Schicksal weiter Gedanken zu machen.
Anders Jeanne, die Véron im Garten von Mon Plaisir aufsuchte, als er von den Herren bereits Abschied genommen hatte.
„Madame“, sprach er sie an, und Jeanne, etwas irritiert über diese Anrede sagte: „Monsieur Véron, wie schön, Sie noch einmal zu sehen.“ Denn es war das erste Mal, nachdem sie Tahiti verlassen hatten, dass sie einander gegenüberstanden.
„Ich komme, um Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich werde nach Indien gehen.“
„Um was zu tun, Monsieur Véron, haben Sie dort Freunde?“
Sie stellt die richtigen Fragen, ging es Véron durch den Kopf. Er dachte, wie oft er sich in ihrer Gegenwart wohl und verstanden gefühlt hatte und war froh, dass die Zuneigung, die er von Anfang an gespürt hatte, nicht fehlgeleitet gewesen war, woran er manchmal fast verzweifelte.
„Nein, Madame, ich kenne dort niemanden. Ich werde versuchen, bei einem wohlhabenden Herrn eine Anstellung zu finden. Es soll dort sehr reiche und vor allem sehr interessierte Herrscher geben, denen ich meine Dienste anbieten könnte.“
„Ich bin überzeugt, dass Ihnen das gelingen wird, Monsieur Véron. Sie wissen so unendlich viel. Auch ich habe Ihnen ja in dieser Hinsicht viel zu verdanken.“
Ihm entging nicht, mit welcher warmherzigen Zuneigung sie sprach.
„Sie sind zu gütig, Madame.“ Er räusperte sich. „Darf ich Ihnen sagen, wie leid es mir tut, was man Ihnen angetan hat. Ich wünschte, man hätte die Verantwortlichen bestrafen können. Aber Sie wissen, der Kommandant…“
„Ja“, erwiderte sie, „ich kann mir denken, in welchem Zwiespalt Monsieur de Bougainville gesteckt hat. Ich habe den Vorfall letztlich selber zu verantworten.“
„Das sehe ich anders.“ Er schluckte einen Augenblick, ehe er fortfuhr: „Jeanne, verzeihen Sie, wenn ich in dieser Weise zu Ihnen spreche. Wir werden uns nicht wiedersehen. Deswegen erlaube ich mir diese Kühnheit. Nachdem ich weiß, wer Sie wirklich sind, möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich mir gewünscht hätte, Sie unter anderen Umständen, zu anderen Zeiten kennengelernt zu haben. Eine Frau wie Sie – ich glaube, Sie hätten mich glücklich machen können. Leben Sie wohl!“
Jeanne schaute ihn staunend an. „Leben auch Sie wohl, Monsieur Véron. Gott sei mit Ihnen und möge Sie beschützen.“ Er verließ schnell den Garten. Jeanne verspürte eine tiefere Traurigkeit, als er davoneilte.
27.
Monsieur Bézac war eine Art zur Ruhe gekommener Abenteurer. Nach dem frühen Tod seiner Frau war er von Frankreich aus zunächst zur See gefahren, hatte sich dann aber auf der Île de France niedergelassen und nach einigen anfänglichen erfolglosen Versuchen, sein Glück im Handel zu machen, war er in Flacq auf ein Stück Land gestoßen, das niemanden zu interessieren schien und deshalb für wenig Geld zu erwerben war. Hier versuchte er seit einigen Jahren, eine Kaffeeplantage zu bewirtschaften. Er hatte sich von Monsieur Poivre schon so manchen Rat geholt und war nun nur allzu bereit, den berühmten Botaniker Monsieur de Commerson bei sich zu beherbergen. Dass der mit einer Haushälterin kam, interessierte Monsieur Bézac nur am Rande. Jeanne erhielt wiederum ein Zimmer bei den übrigen Dienstboten, und wieder durfte sie alleine schlafen. Monsieur Bézac beschäftigte eine schwarze Köchin, Michelle, die Jeannes Zustand sofort erkannte und überaus herzlich zu ihr war. Es gab zwei weitere schwarze Mädchen, die sich um das Haus und teilweise auch den Nutzgarten kümmerten. Außerdem halfen zahlreiche Männer dem Hausherrn bei der Pflege der Plantage.
Es herrschte eine frohe, lockere Stimmung auf dieser Farm. Jeanne hatte zum ersten Mal seit langem das Gefühl, gemocht und akzeptiert zu werden, zumal sie der Dienerschaft verschiedentlich mit ihren Heilkenntnissen helfen konnte, sei es bei Frauenbeschwerden, Durchfall und ähnlichen Leiden oder bei kleineren Verletzungen. Einmal musste sie Monsieur Bézac verbinden, der sich versehentlich mit einer Gartenschere in die Hand geschnitten hatte.
„Sie sind wirklich sehr geschickt, Jeanne“, sagte er anerkennend. „Ich habe es schon von anderer Seite gehört, Sie sind eine richtige kleine Heilerin.“
Sie freute sich über das Lob. Es war nicht das erste Mal, dass man ihre Kenntnisse in Anspruch nahm für kleinere Wehwehchen und nicht etwa die von Monsieur de Commerson. Hätte das nicht näher gelegen? Schließlich war er der Arzt, während sie lediglich sozusagen die niederen Dienste einer Krankenschwester verrichtete. Aber es stimmte schon, was die Heilkräuter anging, da wusste sie immer noch besser Bescheid als er. Und Commerson würde zwar Monsieur Bézac sicher gern behandelt haben, wenn dieser ihn darum gebeten hätte, aber Jeanne bezweifelte, ob Commerson ohne weiteres auch für niedere Dienstboten zur Verfügung gestanden hätte. Das wäre allerdings auch nicht nötig gewesen, weil diese sich selber direkt an Jeanne wendeten. Außerdem verstand Commerson sich im Grunde viel weniger als Arzt, denn als Botaniker. So war es immer gewesen und jetzt erst recht.
Jeanne fühlte sich zunehmend wohl hier in Flacq. Wäre nicht das Kind in ihrem Leib gewesen, hätte sie sich vielleicht gewünscht, für immer hier zu bleiben.
Monsieur Bézac hatte eine große Leidenschaft für die Kultivierung seiner Kaffeepflanzen und wurde nicht müde, mit Commerson über Verbesserungen zu sprechen. Aber er war auch ein aufgeklärter und sozialer Mensch. Er behandelte seine schwarzen Diener mit Respekt und merkte durchaus, wenn irgendetwas mit ihnen nicht stimmte, wenn sie krank wurden oder andere Sorgen hatten und kümmerte sich dann darum. Das war auch der Grund, warum er sich eines Tages im März, als er Jeanne im Garten antraf, wie sie Blätter für das Abendessen pflückte, zu ihr gesellte. Es fiel ihr schon ein bisschen schwer, sich zu bücken. Ihr Leib war inzwischen schon recht umfangreich geworden, und es schien nicht mehr allzu weit hin bis zur Geburt. Er sprach sie an und fragte, ob sie wohl froh sei, wenn diese Last bald von ihr genommen sei. Er hatte sehr mitfühlend gesprochen, und Jeanne seufzte wider Willen.
Da sagte er: „Verzeihen Sie, Jeanne, wenn ich Sie darauf anspreche. Ich weiß, dass ich kein Recht dazu habe, Sie in Verlegenheit zu bringen. Aber ich frage mich, seit Sie und Monsieur de Commerson bei mir wohnen, wie ich Sie beide einzuschätzen habe. Sie sind nicht verheiratet und soweit ich das beurteilen kann, sind Sie auch nicht liiert. Als Mann und Frau, meine ich. Dennoch behandelt Monsieur de Commerson Sie mit großem Respekt. Ich entnehme dem, dass nicht er Sie in diesen Zustand versetzt hat. Pardon, ich bin zu weit gegangen.“ Erschrocken hielt er inne.
Sie erwiderte: „Nein, Monsieur de Commerson trägt keine Schuld daran.“ Es entstand ein kleiner, irritierender Moment, in dem keiner etwas sagte und beide zu Boden blickten. Dann entschloss sich Bézac noch weiter zu gehen.
„Und – ist es wahr, man sagt, Sie seien mit Monsieur de Commerson auf demselben Schiff von Frankreich aus über das südliche Meer gereist? Aber das ist doch …“, er wusste nicht, wie er es sagen sollte, wie er fragen konnte. Denn man sprach über solche Dinge nicht, schon gar nicht durfte man eine Frau, die in sehr missliche Umstände geraten war, auf diese Weise in die Enge treiben. Monsieur Bézac war rot geworden. „Ich muss mich sehr für mein vorlautes Benehmen entschuldigen. Meine einzige Rechtfertigung ist, dass ich das Gefühl habe, Ihnen vielleicht helfen zu können.“
Jeanne stand vor ihm und wusste vor Verlegenheit nicht, was sie tun oder sagen konnte. Sie spürte, dass Monsieur Bézac nicht aus hämischer Neugier zu ihr sprach, sondern echtes Mitgefühl für ihre Situation bekundete.
Sie sagte: „Es ist richtig, ich bin mit Monsieur de Commerson auf der Étoile gesegelt. Ich hatte mich als Mann verkleidet, wissen Sie. Beinahe zwei Jahre ist alles gut gegangen, niemand hat mich in meiner Verkleidung erkannt. Dann aber haben mich ein paar von den Matrosen bei einem Landgang an einem Bach überfallen, als meine Aufmerksamkeit sträflicherweise nachgelassen hatte. Und da wurde ich dann entdeckt. Mit dem Resultat, das sie jetzt sehen können.“
Bézac war schockiert. Sie war so freundlich, so liebenswert, man merkte ihr das Unrecht, das ihr geschehen war, nicht an. Voller Hochachtung dachte er, dass Commerson sich ihr gegenüber wirklich vortrefflich verhielt. Jetzt verstand er auch, warum Monsieur Poivre die beiden zu ihm aufs Land geschickt hatte. Für die Hausherrin des Gouverneurs wäre es sicher undenkbar gewesen, die Niederkunft eines solchen Bastards in ihren vier Wänden zu dulden. Es war merkwürdig, dass man es immer den armen Frauen anlastete, statt die Männer zu verurteilen. Das war hier auf der Île de France nicht anders als im französischen Mutterland.
Es erschien ihm unglaublich, dass Jeanne sich auf ein solches Abenteuer eingelassen hatte. Mutig war das, aber auch sehr leichtsinnig. Hätte sie nicht wissen müssen, dass das nicht gutgehen konnte? Dann tat er etwas sehr Bemerkenswertes. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte: „Freuen Sie sich trotzdem auf das Kind. Das kann nichts dafür, dass es unter diesen Umständen auf die Welt kommt. Kinder sind unschuldig, wissen Sie?“
Jeanne war verblüfft. Was sie nicht wusste und natürlich nicht wissen konnte, war die Tatsache, dass Monsieur Bézacs Frau im Kindbett gestorben war und er versucht hatte, das kleine Wesen trotzdem zu lieben, weil es zwar die Ursache für den Tod seiner Frau war, aber doch eben keine Schuld daran hatte. Er wollte sein Kind lieben und annehmen. Doch es war dann ebenfalls am nächsten Tag gestorben.
„Werden Sie dieses Kind lieben können?“
Jeanne entgegnete: „Darauf kommt es nicht an. Ich werde es zur Welt bringen und hoffe, dass es trotz allem ein gutes Leben führen kann.“
„Vielleicht kann ich dafür sorgen“, antwortete Monsieur Bézac.
Im April 1769 bekam Jeanne Baret einen Sohn. Sie nannte ihn Jean de Bonnefoy. Die Geburt war einfacher gewesen als die Empfängnis des Kindes. Sie stillte den Jungen während der ersten Wochen. Da konnte es geschehen, dass sie manchmal, während sie das kleine Wesen in den Armen hielt, eine Art Rührung überkam. Eine Erinnerung an die wenigen glücklichen Augenblicke, die sie mit ihrem ersten Sohn erlebt hatte. Aber dann überwog doch wieder die Abscheu vor jenem dunklen Moment in ihrem Leben, der für seine Existenz gesorgt hatte, und sie gab den Kleinen mit einem Seufzer weg. Die Schwester der Köchin übernahm ihn gern. Sie war vor kurzem selber Mutter geworden und verdingte sich jetzt als Amme für diesen Jean de Bonnefoy.
Nach zwei Monaten wurde Commerson unruhig. Er teilte Monsieur Bézac mit, dass er gerne nach Port Louis zurückkehren würde, aber nicht genau wisse, wie das unter diesen Umständen zu bewerkstelligen sei. Bézac äußerte eine Idee, über die er offensichtlich bereits länger nachgedacht hatte. Er schlug Commerson und Jeanne vor, den Jungen zu sich zu nehmen und versprach Jeanne, den Kleinen wie seinen eigenen Sohn aufziehen zu wollen. Sie war froh über diesen Vorschlag. Er entband sie von der Verpflichtung, sonst Verantwortung für dieses Leben empfinden zu müssen. Es erleichterte sie ungemein, auch weil sie hoffen durfte, dass es dem Jungen hier gut gehen würde. Gleichzeitig bedauerte sie, die Plantage verlassen zu müssen, die angenehme Atmosphäre von Wohlwollen und Menschlichkeit. Es war aber keine Frage, dass sie Commerson folgen und ihm zur Seite stehen musste, wie auch er seiner Sorgfaltspflicht für sie in ihrer verletzlichen Situation nachgekommen war.
Einige Zeit später also kehrten beide nach Port Louis zurück. Monsieur Poivre empfing Commerson freundlich, um mit ihm zusammen weitere Versuche beim Anbau von Avocados oder auch Hanf und Flachs in seinem botanischen Garten anzustellen. Diese Vorhaben scheiterten. Die Avocado-Pflanze war empfindlich und benötigte sorgfältige Pflege und sehr viel Wasser. Sowohl Hanf als auch Flachs vertrugen das überaus heiße und schwüle Klima der Insel nicht. Trotzdem ließen die beiden Männer nicht nach in ihren Bemühungen.
Poivre hatte Commerson leichtsinnigerweise versprochen, er würde für den Fall seines Aufenthaltes bei ihm sein Salär als Beauftragter des Königs behalten. Er hatte vielfach an die Obrigkeit nach Paris geschrieben und die Bedeutung der Arbeit des Botanikers betont. So sei er insbesondere mit der Auflistung wichtiger Heilpflanzen beschäftigt, von denen man den größten Teil in seinem Garten anzupflanzen gedachte, der als botanischer Garten dermaleinst der Bevölkerung der Insel zugutekommen sollte.
Gleichwohl erhielt Poivre Ende 1769 die Nachricht, dass Commerson, da er die Expedition verlassen habe, nun auch kein Geld mehr aus Frankreich erhalte. Das war bestürzend. Nun war Commerson von Poivre abhängig wie Jeanne von ihm. Als sich die Situation zunehmend zuspitzte, auch weil Madame Poivre sich über den Dauergast zu beschweren begann, der ihr Heim mit all seinen gesammelten Objekten in den hunderten von Schachteln in eine Art botanischer Lagerhalle verwandelte, fand Poivre im Herbst 1770 schließlich einen Ausweg. Er sandte Commerson nach Madagaskar mit offiziellen Papieren, die alle Franzosen dort aufforderten, den Botaniker und einen offiziell als Illustrator mitgeschickten Zeichner namens Jossigny bei ihrem Tun zu unterstützen. Noch einmal bestiegen Philibert de Commerson und Jeanne Baret ein Schiff, um in ein weiteres, allerdings weniger ungewisses Abenteuer aufzubrechen.
28.
Es folgten unbeschwerte Monate auf Madagaskar, einer Insel, deren überreiche Flora und erstaunliche Fauna sie überwältigten. Manches hatten sie niemals zuvor gesehen, weil diese Tiere endemisch waren, also ausschließlich auf dieser Insel vorkamen, wie die auf Bäumen beheimateten Lemuren, Halbaffen mit einem buschigen Schwanz. Flughunde in großer Zahl hatten etwas Furchterregendes, während die Chamäleons sie durch ihre wundervolle Farbigkeit erfreuten. Auch der hochgewachsene madagassische Affenbrotbaum ließ sie staunen, und es gab so vielerlei unbekannte Blumen, dass man nicht hoffen konnte, auch nur einen annähernden Überblick hierrüber gewinnen zu können. Nach vier Monaten und mit hunderten von gesammelten Exemplaren, die Commerson, jetzt wieder ganz der Alte, zum Teil schon nach Linnaeus Taxonomie eingeordnet hatte, nahmen sie dasselbe Schiff zurück, das sie hergebracht hatte, um zur Île de France zurückzukehren. Eine kleine Reise von etwa einer Woche.
Ein heftiger Sturm vereitelte diese Rückkehr. Statt auf der Île de France landete das Schiff auf der Insel Bourbon (heute: La Réunion). Dort wurden sie freundlich aufgenommen von einem französischen Beamten, Monsieur Crémont, der Commersons Arbeit als Botaniker ebenfalls hochschätzte, und der, wie vor ihm schon Monsieur Poivre, an die zuständige Stelle der französischen Regierung in Paris schrieb und um finanzielle Unterstützung für Commerson bat, den ein Sturm an die Küsten von Bourbon verschlagen habe und der schon jetzt viele für die Insel nützliche Pflanzen, auch Heilpflanzen, entdeckt und klassifiziert habe. Commerson fühlte sich äußerst wohl auf Bourbon, da man ihn hochschätzte und achtete, und es ihm an nichts fehlen ließ.
Jeanne war hin- und hergerissen. Einerseits genoss sie die neue alte Bedeutung, die sie in der fruchtbaren Zusammenarbeit mit Commerson empfand. Auch war er, da seine alte Wunde durch die ständige Bewegung wieder aufgebrochen war und er schlimmer denn je humpelte, sehr auf ihre Pflege angewiesen. Das hinderte ihn nicht daran, Vulkane, die das Gesicht der Insel prägten, mit Jeanne zu ersteigen.
Andererseits wurde Jeanne nach wie vor in einem Dienstbotenzimmer untergebracht. Es war ihr in jedem Augenblick bewusst, dass sie in den Augen ihres Gastgebers nur so lange geduldet wäre, wie Commerson ihrer bedurfte. Diese Ungewissheit an diesem entfernten Fleckchen Erde, mit dem sie gar nichts verband, in dem sie sich gänzlich verloren fühlte, machte ihr zu schaffen. Sie sehnte sich nach Mon Plaisir zurück, zum Heim von Monsieur und Madame Poivre, das irgendwie und trotz allem zu einer Art Zuhause geworden war, einem Ort der Zuflucht in ihrem an Konstanten armen Leben. Aber es war unmöglich, mit Commerson darüber zu sprechen. Dabei glaubte sie zu verstehen, dass auch er eine gewisse Unsicherheit verspüren musste. Er wollte nichts davon wissen, diesen Ort relativer Sicherheit wieder einzutauschen gegen die offensichtliche Abhängigkeit von Monsieur Poivre und seinem guten Willen. Auch hoffte er auf positive Nachricht aus Paris als Antwort auf das Schreiben von Monsieur Crémont.
Monatelang geschah nichts. Jeanne musste sich wohl oder übel mit dieser Situation abfinden. Dann erhielten sie die Nachricht, dass sich die Situation auf der Île de France bedeutend geändert hatte. Monsieur Poivre war zurück nach Frankreich beordert worden. Sein Nachfolger, Maillard Dumesle lebte inzwischen in Mon Plaisir. Commerson sah ein, dass es Zeit war, zurück zu fahren, auch um sich um all die Pflanzen und Objekte zu kümmern, die sie in Mon Plaisir vor mehr als einem Jahr zurückgelassen hatten.
Der Empfang war mehr als frostig. Alle Utensilien des Botanikers hatte man in Kisten zusammengepackt und in einem Schuppen untergestellt. Kein Gedanke daran, dass man Commerson im Hause von Monsieur Dumesle aufnehmen würde.
Zum ersten Mal sah sich Commerson gezwungen, einen Ausweg zu finden. Hier war er nicht mehr der geschätzte Wissenschaftler, den man gern zu Gast hatte. Außerdem war er sozusagen mittellos. Zwar hatte er Besitz und Gelder in Frankreich, sowohl in Paris als auch in Toulon-sur-Arroux, aber das war weit weg und für den Augenblick unerreichbar. Auch musste er sich zum ersten Mal Gedanken über Jeanne machen. Hatte er sich bisher über ihre Gefühle hinwegsetzen können, weil alle seine Gastgeber sich aus Gleichgültigkeit oder auch gegen ihre eigentlichen Prinzipien mit diesem merkwürdigen Arrangement von Herrn und Dienstboten abgefunden hatten, so musste er jetzt erkennen, dass niemand freiwillig ein solch dubioses Gespann im eigenen Haus als Mieter unterbringen wollte. Man dachte durchaus an den guten Ruf. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit dem Rest des Geldes ein geeignetes Haus zu kaufen. So fanden sie in der Rue des Pamplemousse eine Bleibe mit all ihren alten und neu gesammelten Objekten.
Commerson ging es schlecht. Er schrieb Bettelbriefe an seine alten Freunde und an die Ministerien in Paris. Jeanne kümmerte sich, wie damals in glücklicheren Tagen in Paris, um alles: das Haus, die Pflanzen und mehr und mehr um einen immer kränklicheren Commerson.
Es gab wenige Lichtblicke in dieser Zeit. Commerson war gesellschaftlich, Gott sei Dank, nicht gänzlich isoliert. An manchen Tagen und Abenden befand er sich in Gesellschaft französischer Herren und Offiziere, die mit den Schiffen auf dem Weg von Frankreich in den Indischen Ozean hier in Port Louis Halt machten und etwas Abwechslung brachten.
Insbesondere ein junger Offizier, Jean-François de la Pérouse, der großes Interesse an der Expedition Bougainvilles bekundete, wollte von Commerson alle Einzelheiten hierüber in Erfahrung bringen. Sein gesamter Ehrgeiz war deutlich auf ein eigenes Kommando zu solch einer Weltumseglung gerichtet (La Pérouse erhielt diesen Auftrag tatsächlich 1785 von Ludwig XVI. 1788 verschwand sein Schiff auf der Route von Australien zu den Salomonen und blieb seither verschollen.). Ihm gestand Commerson, dass er hier auf der Insel eine Akademie gründen wolle, in der das gesammelte Wissen vieler hier gestrandeter Wissenschaftler vereinigt werden sollte. Es war ein letztes Aufblitzen des nimmermüden wissenschaftlich regen Geistes dieses Mannes, der sich ins Abseits gestoßen sah und dennoch seine Berufung in der Weitergabe seines Wissens sah. La Pérouse empfand ein wohlwollendes Mitgefühl für diesen interessanten Menschen, der deutlich am Ende seiner Kraft angekommen war.
Im Februar 1773 wurde Commersons Zustand so schlimm, dass Jeanne in Flacq anfragte, ob sie dorthin kommen dürften. Monsieur Bézac schickte eine Kutsche, um sie abzuholen. Jeanne atmete auf. Es erfolgte ein eigenartiges Zusammentreffen mit ihrem Sohn, der inzwischen bald vier Jahre alt wurde. Er war ein freundliches, offenes Kind, und alle schienen ihn zu vergöttern. Insbesondere Michelle, die Köchin, verwöhnte ihn schrecklich. Zu Bézac, den er als seinen Vater ansah, schien er ein herzliches und vertrauensvolles Verhältnis zu haben. Dass Jeanne seine Mutter war, wusste er nicht, und niemand verriet es ihm, so wie Jeanne es sich ausdrücklich gewünscht hatte. Da er aber offensichtlich großes Vertrauen zu allen Menschen seiner Umgebung hatte, begegnete er auch Jeanne mit Offenheit, suchte ihre Nähe und gewann ihr Herz, als er anfing, sie nach den Namen der Pflanzen zu fragen. Wenn sie in sein Gesichtchen sah, erkannte sie darin niemanden, aber seine neugierige Art zu fragen und das augenscheinliche Interesse an der Natur erinnerten sie sehr an ihre eigene Kindheit. Ohne groß darüber nachzudenken geschah es, dass sie den kleinen Jean in die Arme nahm und ihn an ihr Herz drückte. Er schien im ersten Augenblick überrascht, ließ es dann aber gnädig geschehen, so wie er auch die manchmal unerwarteten Liebkosungen von Michelle und den anderen Frauen über sich ergehen ließ.
„Du kannst bei uns bleiben, Jeanne“, hörte sie Bézac sagen, der die kleine Szene beobachtet hatte. „Ihr könnt beide bei uns bleiben, du und Monsieur de Commerson.“
Erschrocken ließ Jeanne den Jungen los, erwiderte nichts und ging schnell davon.
Commersons Zustand verschlechterte sich. Er verstarb am 13. März 1773, wovon Monsieur Bézac der Obrigkeit in Port Louis in einem Brief vom 14. März Mitteilung machte. Man begrub Commerson an Ort und Stelle.
Noch einmal wiederholte Bézac Jeanne gegenüber eindringlich, sie könne bleiben. Sie brauche sich ja nicht sofort und für immer zu entscheiden. Sie könne sich Zeit lassen, in Ruhe überlegen, was aus ihr werden solle. Aber Jeanne trieb es zurück nach Port Louis. Sie musste nach dem Haus sehen, bestimmte Angelegenheiten regeln. Vor allem sorgte sie sich um den Verbleib der wertvollen Sammlung. Bézac gab ihr für alle Fälle etwas Geld.
Alles änderte sich ununterbrochen. Wer hätte das besser gewusst als Jeanne Baret, in deren Leben es seit ihrem ersten Zusammentreffen mit Philibert de Commerson keine bleibenden Zustände mehr gegeben hatte. Was ihr aber jetzt in Port Louis widerfuhr, war dann doch noch einmal ein weiterer Schlag ins Gesicht, den sie nicht erwartet hatte.
Monsieur de Commerson, der Besitzer des Hauses in der Rue des Pamplemousse, war nun verstorben. Da er im Auftrag seiner Majestät des Königs während einer Expedition um die Welt auch auf Madagaskar Pflanzen und Tiere gesammelt hatte und keine Frau bzw. Erben hinterließ, war sein gesamter Besitz beschlagnahmt worden. Seine wissenschaftliche Sammlung sollte mit einem der nächsten Schiffe nach Frankreich verbracht werden. Jeanne hatte keinerlei Rechte, auch was dieses Haus betraf. Man verweigerte ihr tatsächlich eigens den Zutritt. Unvermittelt stand sie auf der Straße. Sie war 32 Jahre alt und besaß nichts als die Kleider, die sie auf dem Leib trug und das wenige Geld, das sie von Monsieur Bézac erhalten hatte. Langsam ging sie die Straße hinunter zum Hafen. Was sollte jetzt aus ihr werden? Was konnte sie tun? Einen Augenblick dachte sie daran, zu Monsieur Bézac nach Flacq zurückzukehren. Monsieur Bézac mochte sie gern, das hatte sie verschiedentlich gespürt. Er hätte sie aufgenommen. Vielleicht wäre das tatsächlich eine Lösung ihrer ansonsten ausweglosen Lage. Sie selber war Monsieur Bézac für alles, was er für sie und für Commerson und nicht zuletzt für den kleinen Jean getan hatte, dankbar. Aber Dankbarkeit war kein ausreichendes Gefühl, um ein ganzes Leben darauf zu bauen. Und sie war hin- und hergerissen wegen des Kindes. Sie wollte den Jungen verabscheuen, weil er aus diesem schrecklichsten Moment ihres Lebens hervorgegangen war. Sie war froh, dass sie ihn nicht mehr sehen, sich nicht mehr mit seinem Schicksal befassen musste. Aber sie hatte ja gemerkt, wie schwer es werden würde, dieses Wesen zu ignorieren, wenn sie zurück ginge. Sie wollte sich nicht mit der Existenz dieses Kindes aussöhnen. Es kam einer Resignation gleich, täte sie es, so als habe sie sich und den fortwährenden Kampf um ihr eigenes Leben aufgegeben.
Jeanne schaute auf die vielen Schiffe im Hafen, von denen manche direkt nach Frankreich segeln würden. Da wurde ihr klar, dass sie eines dieser Schiffe zurück nach Hause nehmen wollte. Sie war auf eine Reise um die Welt aufgebrochen, und die würde sie zu Ende bringen. Sie gehörte nicht auf diese Insel, so verführerisch auch immer das Klima und die Fülle der schönsten Pflanzen und vor allem Blumen war.
Plötzlich dachte sie an La Comelle, an Burgund, an ihre Eltern, und zum ersten Mal, seit sie mit Philibert zu diesem Abenteuer aufgebrochen war, überkam Jeanne Baret ein Gefühl von Heimweh. All die Monate, Jahre inzwischen, hatte sie sich darauf konzentriert, durchzuhalten. Die Wochen nach ihrer Vergewaltigung verbrachte sie wie im Traum, benebelt durch das Opium, das Commerson ihr verabreicht hatte, um sie zu beruhigen. Und dann, hier auf der Île de France stellte sich die alte Abhängigkeit von Commerson wieder ein. Hatte sie am Anfang ihrer Beziehung darin etwas für ihren Stand sehr Normales gesehen, das dann in Paris zu der wahnwitzigen Illusion führte, er könne sie so sehr brauchen, dass er sie heiraten würde, so musste sie auf der langen Reise immer deutlicher erkennen, wie diese Idee sich ad absurdum führte. Hier auf der Insel waren sie wieder Herr und Dienstbote, ohne die persönliche Komponente wie am Anfang in Toulon und in Paris. Natürlich war mit der Zeit ihre Vertrautheit gewachsen und auch das beiderseitige Verantwortungsgefühl. Commerson hatte sie nach Neu Irland nicht im Stich gelassen und ihr auch hier so gut es eben ging jede Schande erspart, indem er sie nach Flacq und damit außerhalb des Einflusses einer empörten Wohlanständigkeit brachte, als ihr Zustand nicht mehr zu verheimlichen war. Und ebenso hatte Jeanne ihn in all der Zeit gepflegt, auch und trotz seiner Eskapaden auf Tahiti. Sie war ihm sozusagen nahe geblieben bis zum Tod und darüber hinaus. Und sie hätte sich weiterhin auch um seine Pflanzen gekümmert, wenn das möglich gewesen wäre.
Sie hatte hier nichts mehr verloren und wollte nach Frankreich zurück. Dafür aber brauchte sie Geld. Sie musste überleben. Für den Moment besaß sie nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Mit Schaudern dachte Jeanne daran, was Frauen in einer solchen Situation oftmals zu tun gezwungen waren, um nicht unterzugehen. Das war für Jeanne keine Option. Sie würde einen anderen Weg finden.
29.
Es war tatsächlich nicht leicht, einen anderen Weg zu gehen. Sie hatte ihre Hilfe auf dem Markt angeboten und hier und da etwas Geld verdient, um etwas zu essen zu bekommen. Aber sie fand in den ersten Tagen keine Bleibe. Nachts zog sie sich in den großen Garten von Mon Plaisir zurück. Am Tage gab es dort Gärtner, die sich um die Anlage kümmerten. Nachts war man dort unbehelligt. Es gab Wasser, und sie konnte sich in einem kleinen Pavillon verstecken. Die Übernachtungen im Freien boten kein Problem, es war dauerhaft warm und solange es nicht regnete, ging das ganz gut. Spinnen und Ameisen waren unangenehmer, und natürlich schlief sie auf den steinernen Bänken nicht wirklich gut.
Dann fand sie bei einer Marktfrau, für die sie manches Mal gearbeitet hatte und die ihr wohlgesonnen war und Mitleid mit ihrer Situation empfand, eine Unterkunft, die sie allerdings mit den beiden kleinen Töchtern der Frau teilen musste. Den Gedanken, sich als Haushälterin oder überhaupt als Dienstmädchen in einem bürgerlichen Haushalt zu verdingen, gab sie schnell auf. Man begnügte sich in den meisten Fällen mit schwarzen Personen, die man als billige Sklaven halten konnte. Seltener gab es weitere weiße Hausmädchen, etwa als Aufsicht über die Schwarzen.
Aber man kannte Jeanne in den einschlägigen Familien und hätte sie allein wegen ihres schlechten Rufes nicht angestellt. Außerdem brauchte Jeanne Geld für die Überfahrt, viel Geld. Sie hätte Jahre in irgendeinem Haushalt arbeiten müssen und konnte selbst dann nicht sicher sein, die nötige Summe zusammenzusparen.
Als sie mit Cathérine, der Marktfrau, darüber sprach, verwies die sie an die zahlreichen Kneipen im Hafen. Jeanne sagte, sie wolle ihr Geld nicht mit Männern verdienen, auf keinen Fall. Das brauche sie doch vielleicht gar nicht, meinte Cathérine. Es gäbe dort den Ausschank. Die Wirte seien sicher froh um eine tüchtige Hilfe, die arbeiten und auf die man sich verlassen könnte. Natürlich, Angst vor den rauen Sprüchen und den anzüglichen Bemerkungen der Matrosen dürfe sie nicht haben. Aber es gäbe genug andere Frauen, die sich auf die Männer einließen. Das brauche sie ja nicht mitzumachen.
Und das war ein Gedanke, der Jeanne nicht mehr losließ. Sie sah sich um. Es gab fürchterliche Spelunken, von denen sie ohnehin die Finger lassen würde, und dann gab es weniger anrüchige Orte. Cathérine sagte, sie kenne einen Wirt, den sie für einigermaßen anständig hielt. Er hieß Henri und seine Taverne war die „L’ Étoile de la Patrie“. Der Name Étoile gefiel Jeanne sofort. Sie sah das als gutes Vorzeichen.
Cathérine begleitete sie, und als Henri zweifelnd fragte, ob die Mademoiselle denn schon einmal in einer solchen Kneipe und in einem solchen Milieu gearbeitet habe, schaute Jeanne ihm fest in die Augen und sagte: „Ich bin auf einem Segler von Rochefort in Frankreich bis auf die Île de France gefahren, zwei lange Jahre lang. Außer mir waren 115 Männer an Bord. Ich habe vor den Matrosen hier keine Angst, eher sollten sie Angst vor mir haben.“
Henri guckte ungläubig und Cathérine kicherte: „Wirklich? Das hast du mir nicht erzählt.“ Jeanne zuckt nicht mit der Wimper. In diesem Augenblick glaubte sie wirklich, mit allem fertig zu werden. Henri räusperte sich und sagte dann: „Gut. Wir probieren es. Aber keine Schweinereien, hörst du! Solche Frauen brauche ich hier nicht. Hier wird gegessen und getrunken. Für alles andere müssen sich die Kerle woanders umsehen. Ich will hier keine Scherereien. Die Schlägereien reichen mir gerade.“
Also probierten sie es, und es stellte sich heraus, dass Henri mit Jeanne einen Glücksgriff getan hatte. Sie konnte zupacken, sie war fleißig, sie war pünktlich, sie war ehrlich. Und sie hatte eine Art mit den Männern umzugehen, dass diese ihr eher Respekt entgegenbrachten als sie unziemlich anzugehen. Nach einer Weile bot Henri ihr an, oben unter dem Dach eine kleine Stube zu beziehen. Er selber wohnte mit seiner Frau und den beiden Kindern direkt über der Gaststube. Die Frau bereitete in der Küche einfache Speisen zu. Unter dem Dach wohnte noch ein weiteres Dienstmädchen, das sowohl für das Haus zuständig war, als auch in der Küche und bisweilen auch in der Taverne aushalf. Aber dazu war sie nicht schnell und nicht geschickt genug und ließ sich von den Grobheiten der Matrosen zu sehr einschüchtern.
Jeannes Salär war nicht besonders groß, aber die Matrosen ließen ihr bisweilen das eine oder andere Geldstück zukommen. Keine großen Summen. Aber da sie im Haus wohnte, zu essen bekam und kaum Ausgaben hatte, außer hin und wieder für Kleidung, konnte sie doch manches sparen. In weniger als sechs Monaten nach Commersons Tod hatte sie sich etabliert und hoffte, irgendwann ihr Ziel zu erreichen und die Insel verlassen zu können.
Aber das dauerte. Sie sagte sich immer wieder, sie habe schon so viel durchgemacht, sie würde auch diese letzte Hürde schaffen.
Eines Abends erkannte sie Monsieur Bézac unter den Gästen. Er schien nicht erstaunt, sie hier anzutreffen, und Jeanne fragte sich, ob er sich tatsächlich nach ihr erkundigt habe und ihretwegen nach Port Louis gekommen sei. Als könne er ihre Gedanken lesen, sprach er von Geschäften, die ihn nach Port Louis geführt hatten und wie erfreut er sei, sie hier anzutreffen, denn er habe sich manches Mal gefragt, was aus ihr geworden sei, nachdem Monsieur de Commerson, der doch auch ihr Arbeitgeber war, verschieden sei. Er sagte: „auch ihr Arbeitgeber“. Was mochte er wirklich von ihnen gedacht haben. Ob er ihr geglaubt hatte, dass das Kind nicht von Commerson stammte?
Sie fragte nicht nach dem Jungen, erfuhr aber trotzdem, dass er ein aufgeweckter und liebenswürdiger Knabe sei. Es tue ihm keinen Augenblick leid, ihn angenommen zu haben. Bézac ließ Jean tatsächlich in dem Glauben, er sei sein Vater. Und niemand habe das Recht, daran zu zweifeln. Dann fragte er unvermittelt, ob sie nicht doch zu ihm und ihrem Sohn nach Flacq zurückkommen wolle. Jeanne antwortete, sie danke ihm für sein Angebot, sie danke ihm überhaupt für so vieles. Aber sie gehöre nicht auf diese Insel. Und sie begreife sich auch nicht als die Mutter dieses Jungen. Man habe ihr dieses Kind unter Schmerzen aufgezwungen und sie habe es zur Welt gebracht. Weiter aber wolle sie nichts mit diesem Jungen zu tun haben. Im Gegenteil. Wenn sie ihn nur ansehe, werde sie an ihr Unglück erinnert. Sie fürchte, dass sie auf Dauer nur Hass und Abscheu bei seinem Anblick empfinden würde und so voller Ungerechtigkeit wider diesen unschuldigen Bastard handeln müsse.
„Was redest du dir ein, Jeanne! Ich habe gesehen, wie du den Jungen an dein Herz gedrückt hast. Du bist seine Mutter, ob du willst oder nicht. Und du würdest ihn nicht hassen. Du würdest ihn lieben. Sperr dich nicht dagegen! Komm zurück.“
Jeanne merkte, wie die Tränen in ihr aufstiegen und wandte sich rasch ab. Als sie nach einer Weile zurückkam, um die Bezahlung für seinen Verzehr zu kassieren, hatte sie sich wieder gefasst.
„Ich werde nicht mit Ihnen kommen, Monsieur Bézac. Und was immer Sie von mir denken: Ich will dieses Kind nicht wiedersehen. Ich werde nach Frankreich zurückkehren und dieses Leben, diese Insel, die Meere, die ich überquert habe, hinter mir lassen. Für immer. Leben Sie wohl.“
Der Farmer verließ die Wirtschaft. Er kam nicht mehr zurück.
Cathérine, der sie von der Begegnung erzählte, rügte sie. Sie hätte das Angebot annehmen sollen. Offensichtlich hatte der Mann einen guten Charakter. Er schien auch vorurteilsfrei. Und Jeannes Situation sei ja doch nach wie vor eher unsicher. Nicht nur, dass sie das Geld ja erst einmal verdienen musste, wer wusste denn überhaupt, ob man eine alleinstehende Frau auf einem Schiff mitnehmen würde. Und dann war sie ja wieder an Bord eines solchen Seglers voller Männer. Und diesmal sei dann von vornherein klar, dass sie eine Frau sei. Oder ob sie wieder in Männerkleidern reisen wolle.
Nein, dachte Jeanne, das würde sie nicht mehr tun. Aber sie würde doch auch nicht dieselben Strapazen zu befürchten haben. Es gab Passagierschiffe, auf denen man eine eigene Kabine mieten konnte. Und dann würde es andere Passagiere geben. In ihrer Mitte wäre sie geschützt und vor Angriffen der Matrosen sicher. Insgeheim schreckte sie allerdings der Gedanke an diese Schiffsreise, die über Monate um das Kap der Guten Hoffnung und dann entlang der afrikanischen Küste bis hinauf nach Portugal, Spanien und schließlich Frankreich führen würde. Außerdem war die Miete für eine eigene Kabine vermutlich zu hoch.
Um schneller noch mehr Geld zu verdienen, ließ sie sich verleiten, im Winter auch sonntags Bier auszuschenken, obwohl das verboten war. Einmal wurde sie verraten, man brummte ihr eine Geldstrafe auf, die sie in ihren Anstrengungen weit zurückwarf. Henri, hinter dessen Rücken sie den Ausschank an einer Hintertür betrieben hatte, war ziemlich böse darüber, weil er fürchtete, dass seine Taverne nun die Aufmerksamkeit der Behörde auf sich gezogen habe. Das konnte sich bei der nächsten Schlägerei ungünstig auswirken. Da Jeanne sich aber fortan ruhig verhielt, hatte der einmalige Vorfall keine weiteren Konsequenzen.
Im März 1774 kam ein Schiff mit französischen Soldaten, die auf verschiedenen Inseln im Indischen Ozean eingesetzt waren, nach Port Louis. Das Schiff musste überholt werden und die Männer waren froh, für einige Zeit Land unter den Füßen zu haben. Von den üblichen groben Matrosen unterschieden sich die Soldaten in einem angenehmeren Benehmen. Auch wurden sie in ihren Bemerkungen niemals so ausfällig. Henri meinte, es hinge mit der Disziplin zusammen, der sie unterlägen. Ihm waren diese Soldaten die angenehmeren Gäste. Jeanne bemerkte einen, der noch stiller war als die anderen und recht häufig zu kommen schien. Auch ohne, dass er viel sagte, ahnte sie, dass er ihretwegen kam. Sie zeigte nicht, dass sie ihn durchschaute und ließ sich nicht anmerken, dass er ihr angenehm war.
Es dauerte Wochen, bis er sie ansprach. Er sagte, er sei auf der Ambulance nach Port Louis gekommen. Das Schiff müsse für einige Wochen hier im Hafen überholt werden, und dann ginge es endlich nach Hause. Woher er käme? Aus Saint-Aulaye in der Dordogne. Er sei eigentlich Schmied, und er habe etwas von der Welt sehen wollen. Aber inzwischen sei er der Ansicht, dass es jetzt genug sei. Er wolle gern wieder nach Frankreich zurück. Da sei seine Heimat. Jeanne ihrerseits sagte nicht viel, aber sie hörte ihm aufmerksam zu und gab ihm allein dadurch zu verstehen, dass er sie interessierte.
Es dauerte noch einmal eine Zeit, bis er es wagte, sie nach ihrem Leben zu fragen, und wie es sie auf diese abgelegene Insel verschlagen habe. Und Jeanne erzählte ihm von La Comelle, von ihrer Liebe zur Natur und wie sie Arbeit bei einem Botaniker gefunden habe und mit ihm zunächst nach Paris gegangen sei. Noch aber sagte sie nichts von ihrer großen Reise. Er hieß Jean Dubernat, und er kam jetzt, wann immer sein Dienst es zuließ. Als er endlich erfuhr, wie es sie in diese entfernte Gegend der Welt so weit ab von Frankreich verschlagen hatte, war er erst voller Staunen, dann voller Hochachtung und schließlich, als er auch das bittere Ende erfahren hatte, voller Mitgefühl.
Während die Wartungsarbeiten an dem Dreimaster sich hinzogen, wuchs das Vertrauen der beiden zu einander und als Dubernat eines Tages kam und sagte, nun würde das Schiff bald auslaufen und Port Louis verlassen, nahm er Jeannes Hand und fragte, ob sie nicht mitkommen wolle. Sie lächelte traurig und bedeutete ihm, dass sie noch immer nicht genug Geld für die Rückfahrt nach Frankreich habe.
Jean sagte: „Heirate mich. Als meine Frau kann ich dich mitnehmen. Und ich glaube, das ist nicht die schlechteste Idee in meinem Leben.“ Heiraten? Sie blickte in seine offenen Augen, dachte an all die Abende, in denen sie sich einander geöffnet hatten und stellte fest, dass sie lange nicht mehr mit jemandem so gern und so vertrauensvoll gesprochen hatte; dass sie ihn vielleicht nicht liebte, weil ihr Herz immer noch wund und versteinert war, sie ihn aber doch ein bisschen gern zu haben schien. In keinem Moment hatte sie einen falschen Ton an ihm entdeckt. Sie würde sich an ihn gewöhnen und ja, um den Preis nach Frankreich zurückkehren zu können, würde sie es wagen. Und wenn sie dort heil und gesund ankämen, würde sie mit ihm nach Saint-Aulaye gehen und versuchen, ihm eine gute Frau zu sein.
Am 17. Mai 1774 wurden Jean Dubernat und Jeanne Baret in der Kirche von Port Louis getraut. Anfang des Jahres 1775 betraten die beiden wieder französischen Boden, Jeanne als erste Frau, die die Welt tatsächlich umrundet hatte. Anders als bei der Rückkehr der Boudeuse und der Étoile im Jahr 1769 nahm niemand Notiz von dieser bemerkenswerten Tatsache.
30.
„Er hat dir also geantwortet“, sagte Jean und setzte sich neben seine Frau in die Sonne.
„Ja. Er möchte wissen, wie es uns geht. Und er fragt, wie es mir ergangen sei, seit er uns auf der Île de France zurücklassen musste.“
„Zurücklassen musste? Er wird doch im Gegenteil froh gewesen sein, dich los zu werden, dich und Monsieur de Commerson. Ihr wart doch sicher ein ziemliches Problem für ihn.“
Jeanne sah ihren Mann freundlich an. „Ja, das waren wir.“
Sie würde Bougainville wissen lassen, wie die Sache weitergegangen war auf der Île de France, jedenfalls in groben Zügen. Sie würde die Geburt des Kindes nicht erwähnen, um ihn nicht in Verlegenheit zu versetzen und auch nicht, wie kläglich das Ende von Monsieur de Commerson im Grunde gewesen war; eines Mannes von solchen Qualitäten und eines so hohen wissenschaftlichen Anspruchs, der so unendlich viel für sein Vaterland zusammengetragen hatte und am Ende, von diesem Vaterland verschmäht, um Geld betteln musste. Sie wollte seine Erinnerung in Ehren halten, von der großartigen Sammlung berichten, die für alle Botaniker in ganz Europa von unschätzbarem Wert war. Sie würde nur davon sprechen, wie großzügig die Unterstützung ihrer Arbeit durch Monsieur Poivre gewesen war, der den Ausflug nach Madagaskar möglich gemacht hatte und nichts von der Vertreibung durch dessen Nachfolger. Sie würde nicht ihre eigene desolate Lage beim Tode von Commerson erwähnen, sondern nur von ihrer Arbeit berichten im „Étoile de la Patrie“, wo sie ihren jetzigen Mann, den Feldwebel des königlich-französischen Infanterieregimentes kennengelernt habe. So fügte sich alles für Bougainville zusammen. Er brauchte sich wegen Jeanne keine Vorwürfe zu machen.
Jetzt, nachdem alles überstanden war und in so weiter Ferne lag, musste sie über sich selber staunen. Wie hatte sie nur je wagen können, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Sie war wirklich ahnungslos gewesen und hatte die Dinge nicht zu Ende gedacht. Commerson natürlich auch nicht. Aber der war nicht daran interessiert gewesen, über etwas anderes als seine Pflanzen nachzudenken. Und für ihn als Mann, wohlhabenden Bürger und anerkannten Wissenschaftler, war es wohl auch nicht wichtig, viel über die Konsequenzen seiner Handlungen nachzudenken. Aber sie selber konnte nicht umhin, sich diesen Vorwurf zu machen.
Als sie Jean davon erzählte, musste sie lachen. In welche Verlegenheit sie La Giraudais versetzte, als sie ihm erzählte, sie sei entmannt worden. Dem armen Kerl blieb gar nichts anders übrig als ihr zu glauben. Der Kommandant dagegen hatte offensichtlich schon in Rio de Janeiro die Wahrheit erkannt. Warum hätte er Commerson sonst in Arrest stecken sollen. Wenn man es recht bedachte, hatten ihr alle helfen wollen bei ihrer Maskerade. Außer diesem Vivès. Der hatte sich nicht täuschen lassen. Das konnte man ihm nicht vorwerfen. Wohl aber, mit welcher Unmenschlichkeit er gegen sie vorgegangen war. Geschweige denn von der Rolle, die er bei ihrer Vergewaltigung gespielt hatte. Daran wollte sie nicht mehr denken.
Jetzt aber musste sie sich eingestehen, dass alles, was ihr geschehen war, im Grunde nur die Folge ihres eigenen bodenlosen Leichtsinns gewesen war. Vielleicht nicht nur ihres eigenen, denn vieles hätte auch Philibert vorhersehen können und müssen. Aber das war jetzt auch vorbei. Ihr Groll auf Philibert und ihre Enttäuschung gehörten der Vergangenheit an. Was blieb, war eine große Dankbarkeit für all das, was sie erlebt und gelernt hatte, eine tiefe Befriedigung, wenn sie an ihre Arbeit für den Botaniker dachte. Und nicht zuletzt war sie stolz darauf, als erste Frau die Welt umfahren zu haben.
Jean bestärkte sie in diesem Gefühl. Viele Male hatte er ihren Mut bewundert, und immer wieder ließ er sich von all ihren Erlebnissen berichten. Manchmal saßen sie des nachts auf derselben Bank, auf der sie sich nun über den Brief des Kommandanten unterhielten und blickten in einer sternklaren Nacht in den Himmel, der so ganz anders war als der Himmel vor Südamerika, über den sie mit Monsieur Véron gesprochen hatte.
Jeanne korrespondierte unregelmäßig mit Bougainville über einige Jahre und erfuhr dabei, dass Aotourou einige Monate der Liebling der Pariser Gesellschaft gewesen sei, ehe Bougainville ihm die Heimreise ermöglicht hatte. Leider habe ihn später die traurige Nachricht erreicht, dass Aotourou auf dem Weg im Indischen Ozean an der Ruhr erkrankt und gestorben war. Bougainville berichtete auch von seiner Heirat im Jahr 1781.
Einige Jahre später verschlechterte sich Jeannes Gesundheitszustand als Folge der durchlittenen Strapazen während der Weltumseglung, was sie in einem Brief an Bougainville durchblicken ließ. Daraufhin erhielt sie von ihm die Mitteilung, er habe sich an das Marineministerium gewandt, um dort eine Eingabe zu ihren Gunsten zu machen. Er habe hierbei ihre Verdienste hervorgehoben, die sie im Zusammenhang mit der mutigen Weltumseglung in den Diensten des königlichen Botanikers, Philibert de Commerson, erworben habe. Man habe beschlossen, ihr ab dem 1. Januar 1785 in Anerkennung ihrer wertvollen Arbeit eine Pension von 200 Pfund jährlich zu bewilligen aus dem Fond für erwerbsunfähige Militärangehörige, die sich um die Wissenschaft verdient gemacht hatten. Da war Jeanne Dubernat gerade einmal 45 Jahre alt. Sie freute sich über diese späte Anerkennung ihrer Leistung und empfand hierüber eine tiefe Genugtuung. Ihr Vertrauen in den Kommandanten der ersten französischen Weltumseglung hatte sich ausgezahlt.
Jeanne Dubernat starb 1807 in Saint-Aulaye, wenige Jahre vor Louis-Antoine de Bougainville, der ihr im Jahre 1811 nachfolgte.
"DANKE für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit. Das nächste Projekt erscheint demnächst ..."
Literatur:
Glynis Ridley, The Discovery of Jeanne Baret. A Story of Science, the High Seas, and the First Woman to Circumnavigate the Globe, Broadway Paperbacks, New York 2010
Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde, Pocket classiques, Paris 1999
Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde par la frégate la Boudeuse et la flûte l’Étoile, Paris 2006
Denis Diderot, Supplément au Voyage de Bougainville, La bibliothèque Gallimard, 2002
James Cook und die Entdeckung der Südsee, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2009
John Dunmore, La vie de La Pérouse. L’appel d’un destin, Toulouse 2006
Dava Sobel, Längengrad. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste, btb 1998
Vielen Dank für Ihr Interesse! Schon bald gibt es neuen Lesestoff als Fortsetzungsroman ...